Culturstudien. Wilhelm Heinrich Riehl

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Culturstudien - Wilhelm Heinrich Riehl


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einer in genauer Terrainschraffirung wissenschaftlich durchgearbeiteten Specialkarte ein fremdes Land sicher zu durchstreifen, ohne jemals einen Bauer um den Weg zu fragen, ja die Eingebornen zu veriren, indem man ihnen zeigt, daß man als Fremder kraft der guten Karte oft ebensoviel und mehr von der Plastik ihres Landes weiß als sie selber, mit einem gewissen Feldherrnbewußtsein am Morgen seine Marschdispositionen selber zu treffen und am Abend wie Cäsar quasi re bene gesta, zur vorbestimmten Stunde pünktlich in's Quartier einzurücken. Der Fußwanderer gewinnt eine solche Specialkarte lieb wie seinen besten Freund: sie räth und hilft ihm in den Zweifeln des Marsches, und in den leeren Stunden einsamer Rast braucht er ihr nur recht genau in das treue Gesicht zu sehen, so belehrt sie ihn über Landes- und Volkskunde oft besser wie ein Professor und repetirt mit ihm theoretisch die praktischen Studien des Tages.

      Solche Wanderkarten suchte man freilich auch in den fleißigsten Blättern des Homannischen Atlasses noch nicht; eher verlangte man Forst- und Jagdkarten. Es gibt dergleichen im Homannischen Atlas, wo kaum die Landstraßen angedeutet sind, desto genauer aber die Waldgränzen, ja wohl gar allerlei Notizen über den Wildstand. Das war zur selben Zeit, da Johann Elias Niedinger nur Hirsche, Rehe und Wildschweine zu stechen brauchte, um der populärste deutsche Kupferstecher zu werden. Auch kam es bei einer Specialkarte der kleinen reichsunmittelbaren Territorien weniger darauf an, daß Berge und Flüsse und derlei Nebensachen, als daß alle Galgen des Gebietes genau eingetragen waren. Denn der Galgen auf der Landkarte war das stolze Symbol der eigenen Gerichtsbarkeit, und gerade die kleinen Reichsunmittelbaren ließen sich die seltene Gelegenheit, einen überführten Sünder auf eigenem Gebiet köpfen oder henken zu lassen, am ungernsten entschlüpfen, weil sie hierbei eines der kostbarsten Attribute ihrer souveränen Würde öffentlich beurkunden konnten. Darum war es viel sicherer, in großer Herren Ländern ein Spitzbube zu sein. Reisekarten waren überhaupt noch nicht sehr nöthig in einer Zeit, wo man sich, um als Tourist zu reisen, am sichersten und bequemsten an einen Frachtfuhrmann anschloß. Bei gutem Wetter spazierte der Wanderer mit Muße neben dem Wagen her, und bei schlechtem kroch er in das unter demselben schaukelnde Schiff, wo jetzt allenfalls des Fuhrmanns Spitzhund sein Mittagschläfchen hält.

      Wenn auch die alte Karte das Land nicht abbildete, so versinnbildete sie es wenigstens im weitesten Sinne. Darum durfte die Vignette mit den Wappen der regierenden Häuser nicht fehlen und mit den allegorischen Figuren, welche gleichsam eine bildliche Landesstatistik darstellen: dazu mit Städteansichten und Prospekten der merkwürdigsten Gebäude, die wo möglich auf einem von schwebenden und purzelnden Engeln entrollten Tuche an den Rand gezeichnet sind. Ueber diese Gruppen im Homannischen Atlas könnte man ein ganzes Kapitel schreiben: denn in ihnen spiegelt sich die damalige Auffassung von Land und Leuten. Niemals ist das Volk allegorisch dargestellt, sondern immer nur das Regiment des Landes, in Wappen und Wappenhaltern, Kronen und Bischofshüten, dazu dann die Industrie und die Landesprodukte. Das achtzehnte Jahrhundert kannte noch nicht den modernen Begriff der socialen Volkskunde: es faßte und zeichnete bloß die Herrschaft und das Land als eine allegorische Figur, nicht die Leute. Jene dürftigen Allegorien sind hier ein so getreues Bild ihrer Zeit, daß sie uns stolz machen könnten auf die unsrige. Norwegen ist z. B. im Homann'schen Atlas allegorisch dargestellt durch zwei Tritone, deren einer eine Schüssel voll Seekrebse darreicht, während der andere in der Linken das Muschelhorn hält und in der Rechten einen naturgetreuen Stockfisch. Man sieht, unsere modernen Gedankenmaler könnten auch Studien machen im Homannischen Atlas. Die Lausitz präsentirt sich durch einen Merkur, der als Ladendiener ein Stück Tuch abmißt und ausschneidet! Dänemark ist durch feiste Ochsen vertreten, Hessen-Kassel durch eine Schafschur, Italien durch einen Arion, der als Opernkastrat auf den Wogen trillert; die böhmische Industrie ist nur erst durch Fasanen und wilde Schweine angezeigt und die unterösterreichische durch eine Schüssel voll Safran neben einem Fasse Wein. England allein hat eine politische Vignette: das Bild einer Parlamentssitzung.

      Nicht wenige dieser Vignetten sind so reich componirt und so groß angelegt, daß sie gut ein Drittheil der ganzen Karte einnehmen, und es scheint, nicht sowohl die geographische Zeichnung als der allegorische Schmuck sei die Hauptsache am Blatt. Dies war auch bei den auf Bestellung gefertigten Karten der kleinen reichsgräflichen, bischöflichen und städtischen Gebiete sicher der Fall; denn sie sollten vielmehr zu Prunk und Schau als zu einem wissenschaftlichen Zwecke dienen. Wie die vornehmen Herren damals gerne ihr Porträt gegenseitig austauschten, so hielten sie es wohl auch mit den pomphaft aufgeputzten Porträten ihrer Territorien, und manche standesherrliche Familie besitzt heute noch ebensowohl eine Sammlung solcher Tauschkarten, wie Tauschporträte die Ahnengallerien unseres Adels erst voll und reich gemacht haben.

      Für die Erkenntnis; des künstlerischen Handwerks im achtzehnten Jahrhundert sind diese Vignetten nicht unwichtig. Mochte die magere Zopfzeit auch noch so arm geworden sein an reiner und hoher Kunstübung: im phantastischen und künstlerisch individuellen Schmuck der Erzeugnisse des Handwerks bewahrte sie noch lange das reiche Erbe des üppigen Rococo. Erinnern diese prunkenden, oft von wirklichen Künstlern gezeichneten Vignetten mit einer mittelmäßigen Landkarte neben dran, nicht an jene mit so wunderbarem Fleiß und Geschmack ausgemalten Anfangsbuchstaben mittelaltriger Manuscripte, bei denen oft der erste Buchstabe mehr werth ist als das ganze nachfolgende Buch? Gerade beim künstlerischen Handwerk mag man erkennen, wie unendlich viel Mittelalter noch im Rococo und Zopfe steckt. Mag der Schnörkel sich hier zusammenringeln, den man früher lang hinauszog, mag die Fischblase zur Schnecke, der Spitzbogen zum Halbkreis und das symbolische Heiligenbild zum allegorischen Götterbild geworden sein: die Lust so liebevoll und zugleich so phantasievoll überflüssig zu ornamentiren bleibt doch bis tief in's achtzehnte Jahrhundert, sie bleibt, solange man in Galla den Brustharnisch zur Perücke trägt. Heutzutage haben wir ohne Vergleich bessere Kartenwerke als das Homannische; aber so reich geschmückt mit guten und schlechten, überflüssigen und doch charakteristischen Bildern machen wir längst keine Karten mehr. Denn so naiv zu spielen und zu prunken wie Mittelalter, Renaissance und selbst der Zopf, haben wir ganz gründlich verlernt.

      Auf den ältesten nach holländischen Mustern gestochenen Blättern des Homannischen Atlasses ist von Australien nur erst die Westküste nebst einzelnen Punkten der Süd- und Nordspitze mit unsichern Strichen angedeutet: Gestalt und Ausdehnung des fünften Welttheils ist noch ganz unbekannt. In der reichen Inselwelt der Südsee sieht es noch wüst und leer aus. Von Neuseeland ist blos eine kleine Küstenlinie punktirt, und man weiß nicht, ob ein neuer großer Continent oder eine bloße Insel dahinter steckt. Als dagegen die letzten Homannischen Karten erschienen, konnten sie – nach englischen Forschungen und Stichen – die ganze vielgestaltige neue Welt des indischen Oceans und der Südsee als in ihren Hauptumrissen festbestimmt, in ihren zahllosen Inselgruppen wesentlich entdeckt bezeichnen. In diesem ungeheueren Fortschritt der Erdkunde, der sich in der Geschichte eines einzelnen Kartenwerkes darstellt, liegt zugleich die entsprechend riesige Umwandlung des ganzen europäischen Geistes angedeutet, die zwischen Anfang und Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts fällt.

      Der größten religiösen Bewegung der neueren Zeit ist die Entdeckung des vierten Welttheiles vorangegangen; der größten politischen und socialen die Entdeckung des fünften.

      Wenn sich eine neue physische Welt vor unsern Augen aufthut, dann ist es nicht möglich, daß die alte geistige im alten Geleis bliebe. Nicht die Philosophen, die in sich hineinschauen, bereiten Revolutionen vor, sondern die Männer der Weltbeobachtung, die aus sich herausschauen.

      Der große Haufe kümmerte sich doch wohl gar wenig um Rousseau's Phantasien vom Urzustand und den Urrechten der Menschheit. Aber an dem abenteuerlichen Gemisch von neuer Wahrheit und alter Dichtung, das ihm über die »glückseligen Inseln« im stillen Ocean erzählt wurde, spann er die eigenen naturrechtlichen Träume weiter. Während der kleine Bube im ABC-Buch Verse über Cook's Reisen buchstabirte, machte sich der Vater mit dem Gedanken vertraut, daß es noch eine wirklich neue, eine jungfräuliche Welt gebe, wo nicht bloß nackte Menschen wohnen, sondern auch der nackte Mensch, wo Natur und Mensch noch herrlich seien wie am ersten Tag, wo es keinen Staat und keine Regierung gebe, keinen Homannischen Atlas voll Kronen und Bischofsmützen, keine Steuern, Zölle, Zehnten, Frohnden, keine vornehmen und geringen Leute, keine Sklaven und Schergen. Die arkadischen Schäferspiele der höfischen Welt wurden zu einer geographischen Phantasie des Volkes. Die Bewohner der »Freundschaftsinseln«


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