Culturstudien. Wilhelm Heinrich Riehl
Читать онлайн книгу.stellt den Teufel als Executor der gerechten Strafe des Nachdrucks unmittelbar hinter das kaiserliche Privilegium, gleichsam als einen Succurs für die in der Execution säumigen Juristen, indem er die Vision Philanders von Sittewald aushebt, der in der Hölle einem Buchdrucker begegnet, welchem ein nachgedrucktes Buch feuerglühend im Halse steckt, daran er fort und fort in alle Ewigkeit würgen muß, und kann es niemals hinunterschlucken.
Als die Hausbücher noch so compact waren, daß der Briefsteller allein eine ganze Encyklopädie von allerlei Wissenschaften darbot, waren auch die Persönlichkeiten compacter als gegenwärtig. Sie lebten sich ein in ihre wenigen, oft sehr naiven und rohen Bücher, behielten dabei aber auch Sammlung, sich in sich selber einzuleben. So hängt ein Stück des eigentlichen Seelenlebens vergangener Geschlechter an jenen für sich vielleicht ganz bedeutungslosen alten Scharteken, und nicht ohne Rührung, ja nicht ohne Ehrfurcht kann man manche dieser Noth-Hülfsbücher betrachten, aus denen unsere Vorfahren manchmal durch hundert Jahre sich den bescheidenen Schatz ihrer Kenntnisse sammelten, um sich dann im Vertrauen auf Gott und ihren Mutterwitz im praktischen Leben oft weiter zu bringen, als wir mit unserer bändereichen Gelehrsamkeit.
Volkskalender im achtzehnten Jahrhundert.
1852.
Volkslitteratur ist heutigen Tages eine vornehme Liebhaberei geworden, und der Kalendermacher ist nicht mehr sprüchwörtlich der letzte unter den Bücherschreibern: litterarische Aristokraten schreiben Kalender, und Volksbildungsvereine von reichen Leuten geben Kalender für die Armen heraus. Vor hundert Jahren war es anders, und unsere heutigen Kalender dürfen nicht ahnenstolz sein auf ihre löschpapiernen Vorfahren. Dafür sind aber die letzteren doch wenigstens in ihrer Wirksamkeit wahre Volkskalender gewesen und getreue Spiegel der damaligen Volksbildung und Volkssitte. Die meisten der heutigen Volkskalender zeigen, was die gebildete Welt aus dem Volk machen möchte, die alten, was das Volk damals wirklich war.
Das deutsche Volkskalenderwesen des achtzehnten Jahrhunderts theilt sich, entsprechend dem letzten Satze, in zwei Perioden. Die erste reicht beiläufig bis zu den achtziger Jahren. Bis dahin war der Kalender in der Regel ein historisches Volksbuch, welches in seinen Monatstafeln die Geschicke des künftigen Jahres prophezeite, in dem gegenüberstehenden fortlaufenden Texte aber einen Geschichtsabriß des vorigen Jahres gab. Auf dem Standpunkte der bildungslosen Masse selber stehend, befriedigte also der Kalender wesentlich deren Aberglauben und Neugierde. Mit den achtziger Jahren aber bringt die Tendenz der Aufklärung und Volksbelehrung einen merklichen Umschwung in diese Kalenderlitteratur. Statt der zeitgeschichtlichen Berichte sind jetzt die Blätter mit moralischen Anekdoten und nützlichen Belehrungen, statt der astronomischen Zeichen und Verse, statt der Wetterregeln und »Erwählungen« mit altklugen, gemachten Sittensprüchen erfüllt, und während die Tafel des Aderlaßmännleins bis dahin den Kalender beschloß, beschließt ihn nun das große Einmaleins und die Zinstabelle. Der Kalendermacher hatte vordem mitten im Volk gestanden als ein Herold seines Aberglaubens, als sein Prophet, als sein Hof- und Leibhistoriograph. Jetzt tritt er vor und über das Volk und wird sein gestempelter und privilegirter litterarischer Schulmeister. Früher hatten wir darum nur Eine Art des Volkskalenders, entsprechend der in den großen Zügen gleichartigen Physiognomie der bildungslosen Masse; jetzt haben wir deren unzählige, denn jeder Litterat will nach seiner Individualität diese Masse bilden.
Die volksbildenden Kalender, wie sie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aufkamen, schufen allmählig einen Ablagerungsplatz für einen ungeheuren Lehr- und Agitationsapparat, den wir jetzt kaum mehr an den Mann zu bringen wüßten, wenn uns plötzlich die Kalender ausgingen. Aber erst als man die Bedeutung der in jeder Volksgruppe ruhenden politischen und socialen Macht zu ahnen begann, konnte man es der Mühe werth halten, durch Kalender auf sonst literarisch unzugängliche Kreise zu wirken. Was lag der ächten Rococo- und Zopfzeit daran, ob dem gemeinen Mann auch noch außerhalb der Kirche und Schule Bildungsstoffe zugeführt würden! er war ja nur eine ruhende Potenz, die man darum getrost auf sich beruhen und für sich selber sorgen ließ. Die gänzliche Umgestaltung der Volkskalender seit länger als einem halben Jahrhundert ist ein Siegeszeichen der socialen Politik. Wir haben jetzt Volkskalender der politischen Parteien, mehr noch der kirchlichen; die Regierungen lassen Kalender schreiben, weil sie wissen, daß sie mit ihren officiellen Zeitungen niemals bis zu den Bauern durchdringen können, und die Opposition säumt dann auch nicht, ihrerseits mit Kalendern in's Feld zu rücken. Nationalistische und orthodoxe Kalender werben um Land und Leute; protestantische Traktatengesellschaften lassen aus ihren Traktätchen Volkskalender zusammenstellen, und katholische Kleriker streiten in Kalendern »für Zeit und Ewigkeit« mit dem Eifer und der Derbheit mittelalterlicher Predigermönche für ihren Kirchenglauben. Man schreibt Bauernkalender, die niemals ein Bauer liest, um Dorfgeschichten zu ediren, und illustrirte Kalender, welche Pfennigmagazin und Conversationslexikon zugleich ersetzen sollen; dazu landwirthschaftliche Kalender, statistische Geschäftskalender, Jugendkalender und Gott weiß was sonst noch. Die Geschichte aller dieser Kalender bildet eine wesentliche Ergänzung zur Geschichte der Journalistik.
Ich bin so glücklich, in mehreren starken Quartbänden eine Sammlung der verschiedenartigsten, in Nürnberg, Frankfurt, Straßburg, Berlin und Wien erschienenen Volkskalender zu besitzen, die irgend ein Kuriositätenliebhaber, vermuthlich in den neunziger Jahren, aus fast allen Jahrzehnten seines Jahrhunderts zusammengetragen hat. Da mein Sammler auch die schlechteste Scharteke nicht verwarf, so bot sich mir hier ein Material, wie man es wohl schwerlich auf einer Bibliothek oder bei einem Antiquar wiederfinden wird, und indem ich seit meinen Jugendjahren mich häufig an der Betrachtung der barbarischen Holzschnitte und der Lektüre des wunderlichen Textes ergötzte und später noch vergleichende Studien anderswoher hinzuzufügen suchte, ward es mir in diesem wenig betretenen Grenzwinkel der Litteratur fast so heimisch, wie es Einem bei öfterem Fußwandern selbst in einer Wüstenei werden kann.
Die alten Kalendermacher waren unstreitig meist die Hefe der damaligen schreibenden Welt, und das will viel sagen; sie waren aber doch so einflußreich wie unsere besten heutigen Volksschriftsteller. Noch in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war der Kalendermacher eine geheimnißvolle, magische Person, ein halber Hexenmeister. Ja man kann sagen, diese Leute, die in ihrer Mehrheit eine Körperschaft von miserablem literarischem Gesindel bildeten, sind die letzten »Seher« des deutschen Volkes gewesen. Darum sagt der Bauer heute noch, wenn Einer träumend und sinnend dreinschaut, man meint »er mache Kalender.«
Als der poesiereiche uralte Volksaberglaube von der nüchternen gebildeten Welt des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr recht verdaut wurde und in dem gelehrten Bücherwesen nirgends mehr eine Freistatt fand, da verbarg er sich zu allerletzt noch in den grauen Löschpapierblättern der Volkskalender.
Aus demselben Grund, aus welchem weise Frauen zu Ariovist's Zeit den Germanen geboten, daß sie nicht vor Neumond die Schlacht beginnen sollten, gebot vor hundert Jahren Magister Gaup, der Kalenderschreiber, den deutschen Bauern, daß sie vor Neumond beileibe nicht purgiren und arzneien möchten. Denn das wachsende Licht bringt Fülle und Gesundheit, das abnehmende Zerstörung und Untergang. In den alten Kalendern, die ein ganzes System solcher »Erwählungen« durchführen, werden die positiven Geschäfte (wie Säen, Pflanzen u. dgl.) überhaupt in die Zeit des wachsenden, die negativen (wie Holzfällen, Haarschneiden u. dgl.) in die des abnehmenden Mondes verlegt.
Da fühlte sich der Kalendermacher seinem Publikum gegenüber als ein Ausleger der geheimen kleinen Naturkräfte und der großen Weltgesetze. Und wie der altgermanische Seher der öffentlichen Würde des Priesters oder der privaten des Hausvaters nicht entbehren durfte, so fetzte der Kalenderschreiber vor hundert und mehr Jahren nicht leicht seinen Namen auf das Titelblatt, ohne die Beifügung hochtönender wissenschaftlicher Prädikate. Wer sich die öffentliche Würde eines Artium liberalium Magister nicht zuschreiben konnte, der schuf sich ganz eigens eine private, die seinen Einblick in »alles Wirkens Kraft und Saamen« anzeigte, als z.B.: Marcus Freund, Miraculorum Dei amator, oder Christoph Adelsheim, Art. Mathem. cultor strenuus. Oder verschmähte es Einer, dem gemeinen Mann lateinischen Sand in die Augen zu streuen, dann schrieb er sich mindestens in ehrlichem