Culturstudien. Wilhelm Heinrich Riehl

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Culturstudien - Wilhelm Heinrich Riehl


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als seien sie Kinder Apolls und der Grazien, halb nackt, halb in griechischem Gewand einhergehend, mit Rosenketten spielend, nichts sinnend und thuend als lauter liebes und gutes.

      Hinter dem Eiswall des südlichen Polarmeeres aber suchte ein damals noch weit verbreiteter Volksglaube das wirkliche Paradies mit seinem ewig blauen Himmel, den biblischen Wundergarten, wo der Baum der Erkenntniß noch mitten inne stehe, gerade so wie ihn Adam und Eva verlassen.

      Wenn man nun von dem seligen Naturleben der Südseeinsulaner phantasirte, dann lag die Frage nahe: warum man denn nicht auch diesseit des großen Wassers statt der dämonischen Cultur, statt der gehaßten Reste mittelalterlicher Gesellschaftszustände solch ein Kinderleben der Gleichheit und Unschuld zurückführen könne?

      Das waren Rousseau's Lehrsätze im Volkston. Und während man von den idealen nackten Menschen in der neuesten Welt träumte, brach in der neuen Welt, in Amerika, der Kampf um die Menschenrechte wirklich los. Der Homannische Atlas hatte nicht umsonst Geographie gelehrt und dem Weltbürgerthum gezeigt, wie sein Vaterhaus, die Welt, ungefähr eingerichtet ist. Als die Amerikaner den Hafen von Boston sperrten und den ersten Congreß nach Philadelphia beriefen, war das für den deutschen Philister nicht mehr weit hinten in der Türkei. Er hatte seinen Homann getauft, er wußte recht gut wo Boston und Philadelphia lag. Er war dort so gut zu Hause wie auf den Freundschaftsinseln und vielleicht noch etwas besser als in der Ortsgemarkung seiner Vaterstadt.

      Nicht bloß die Gelehrten, auch das Volk war im achtzehnten Jahrhundert aus sich herausgetreten in seiner geographischen Weltanschauung: so trat es schließlich auch aus sich heraus in seiner politischen. Nicht blos durch die Bücher der Encyklopädisten, auch durch die zahllosen Reisebeschreibungen, die der große Haufe heißhungrig verschlang, wenn sie gleich großentheils zäh und trocken waren wie altes Sohlenleder, auch durch den ehrsamen Homannischen Atlas ging der Weg zur Revolution.

      Die Landes- und Volkskunde ist die wichtigste Hülfsdisciplin der Staatswissenschaft: in ihrer populären Fassung ist sie aber auch zugleich der mächtigste und ausdauerndste Hebel politischer Agitation. Verwandte man diesen Hebel im achtzehnten Jahrhundert zum Niederreißen, so zeige das neunzehnte, wie herrlich man ihn auch zum Aufbauen gebrauchen kann.

      Der Abstand der spätesten Homannischen Karten der Küsten und Inseln des fünften Weltheils von der australischen Karte der Gegenwart ist bereits nicht minder groß geworden als er zwischen jenen frühesten holländischen und den letzten englischen Blättern im Homannischen Atlas selber war. Jetzt werden jene Küsten und Inseln erforscht und colonisirt, wie sie damals entdeckt wurden. Wo im Homann an den australischen Küsten nichts weiter geschrieben steht, als etwa: »hohes unfruchtbares Land,« »niedriges überschwemmtes Land,« »weder Wasser noch Einwohner« u. dgl., da hat jetzt eine neue wimmelnde Welt ihre Pforten geöffnet, und neue Träume spinnt das alte Europa über das Paradies mit den goldenen Bergen, welche man dort entdeckt – nicht bildliche goldene Berge, sondern von wirklichem, gediegenem gelbem Gold. Und wie eine naivere Vergangenheit bei den angeblichen unschuldvollen Urmenschen der Südsee sich neue politische Ideen holte, so gräbt die realistischere Gegenwart neue volkswirthschaftliche Ideen mit den australischen Goldklumpen aus. Die Zukunft aber wird lehren, ob diese goldschimmernden Lehren zusammt den wirklichen australischen Goldstufen nicht das Gold der Kobolde im Mährchen sind, das sich alsbald in glühende Kohlen verwandelt, die das Haus, wo man sie aufgesammelt, in Brand stecken.

      Studien in alten Briefstellern.

      1854.

      Es ist nicht allezeit gewesen wie heute, wo ein gebildeter Mann sich schämt, einen Briefsteller auf sein Bücherbrett zu stellen. Im siebzehnten Jahrhundert noch gehörte mehr Bildung dazu, einen Briefsteller zu lesen, als gegenwärtig einen zu schreiben. Dieser höchst populäre Literaturzweig, dessen Sprößlinge zuletzt Geschwisterkinder mit den Quedlinburger Complimentirbüchern geworden sind, erscheint dermalen wie eine heruntergekommene Sippschaft aus altem, weiland gutem Hause, Selbst in der Geschichte der Buchdruckerkunst wird der Ahnherr der deutschen Briefsteller mit Ehren genannt. Wenige Jahrzehnte nach der Erfindung Guttenbergs druckte der berühmte Meister Anton Sorg in Augsburg bereits den ersten deutschen Briefsteller. Dieses Buch war also ein wahrer Vorder- und Flügelmann in der langen Front der sogenannten gemeinnützigen Bücher, die sich allmählich breit über unser ganzes literarisches Schlachtfeld gepflanzt hat.

      In diesen stolzen, gelehrten, alten Briefstellern möge man mit mir eine Weile behaglich blättern, und die gravitätischen Herren und Frauen der alten Zeit werden aus den kleinen Pergamentbänden leibhaftig vor unsern Augen aufsteigen, die bedächtigen frommen Urväter, die noch mit einer gewissen Feierlickkeit Briefe schrieben, kein Datum darunter setzten, außer mit einem: Laus Deo, keine Wechsel ausstellten, außer mit der Schlußformel: »Gottes Schutz eingeschlossen,« die einen Frachtbrief etwa mit den Worten anhuben: »Unter dem Geleit Gottes und des Fuhrmanns N. N. übersende ich beifolgend drei Tonnen Häringe,« die einen Ehevertrag nicht wie ein gerichtliches, sondern wie ein kirchliches Aktenstück begannen, mit der feierlichsten Anrufung: »Im Namen der heiligen und untheilbaren Dreieinigkeit,« und die in einem soliden Briefsteller gar keine Formularien zu Liebesbriefen duldeten, sondern nur zu Hochzeits- und Gevattersbriefen.

      Die Briefsteller sind jetzt ein Hausbuch der Ungebildeten, früher im Gegentheil der Gebildeten: sie waren kleine Encyklopädien der Kanzleigelehrsamkeit, summarische Staatsadreßkalender, Musterbücher für die gangbarsten Formularien und Aktenstücke aus dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit, kaufmännische Geschäftshandbücher; ja in unsern ältesten Briefstellern sind sogar die ersten naiven Versuche zu einer gemeinfaßlichen deutschen Grammatik und Rechtschreiblehre für das große Publikum niedergelegt. Solche Bücher wurden dann auch nicht fabrikmäßig gemacht, sondern von gelehrten Leuten, namentlich von Juristen, Notarien und Kanzleibeamten mit sonderlichem Fleiß ausgearbeitet. In unsern Tagen pflegt der Autor eines Briefstellers seinen Namen verschämt zu verschweigen. Vor zweihundert Jahren dagegen durfte auch ein gelehrter Mann noch stolz darauf sein, einen Briefsteller geschrieben zu haben. Ich besitze einen solchen, im Jahre 1663 herausgegeben von dem kaiserlichen Notar Alhard Moller, der sich hinter der Vorrede von seinen Freunden und Brüdern in lateinischen Distichen und deutschen Alexandrinern besingen läßt, für das ruhmreiche Werk, den nachfolgenden Briefsteller geschrieben zu haben. Es gemahnt das an gefeierte Sängerinnen, die nach ächtem Komödiantenbrauch ihre sämmtlichen Lorbeerkränze im Vorzimmer aufhängen. Aber unser kaiserlicher Notar geht noch weiter. Denn nachdem er die sämmtlichen Lobgedichte seiner Freunde im Vorzimmer des Buches aufgehangen, singt er selber auch noch in lateinischen Versen Ad Librum seinen eigenen Briefsteller an, und dann erst öffnet er uns die Thüre, die zunächst zu der Untersuchung über den »Begriff einer Epistel« führt.

      Im siebzehnten Jahrhundert mußte ein Briefsteller mit griechischen und lateinischen Citaten fett gespickt seyn, wie ja damals auch die schlichteste Predigt solcher Ornamentik nicht entbehren durfte, und wenn sie auch vor einer Bauerngemeinde gehalten wurde. Den meisten Menschen sind überhaupt die Dinge am erbaulichsten, die sie nicht verstehen. Auch that der Handwerker damals immer wichtiger mit den Zunftgeheimnissen, je mehr Zunft und Handwerk verfiel: das lateinische Citat aber war das Zunftgeheimniß des gelehrten Handwerks.

      Je unfruchtbarer die Gelehrsamkeit geworden war, um so mehr citirte und classisicirte sie. Weil man die lebendige Fülle der wissenschaftlichen Gestalten nicht mehr zu fassen vermochte, suchte man von denselben möglichst sauber das Skelett herauszuschälen. Wer ein jeglich Ding in die meisten Arten und Unterarten zerfällte, der hatte den Preis der Gelahrtheit. So soll nach den Briefstellern des siebzehnten Jahrhunderts ein einfacher, aber ächter und gerechter Brief aus zwölf Theilen bestehen, als salutatio, exordium, narratio, confirmatio, petitio etc.; der letzte »Theil« ist sigilli impressio. Diese zwölf Theile werden dann wieder dreifach gruppirt als »wesentliche,« »mitfolgend-nothwendige« und »willkürlich-beliebige.« Die Gliederung der Briefarten selbst aber spaltet sich vollends ins Unendliche. Am ergötzlichsten wird dieser maßlose Formalismus der Zopfzeit in einer besonderen Gattung von Briefen, die man »Grußbriefe« nannte.


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