Culturstudien. Wilhelm Heinrich Riehl

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Culturstudien - Wilhelm Heinrich Riehl


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von oben herab immer aufgeklärter und nüchterner wurde, mußten die Männer der geistigen Berufe dem Volke gegenüber noch immer die Maske des Magus vorhalten um ihren Credit zu behaupten. So thaten es die Pfarrer und Ärzte, warum nicht auch die Kalendermacher? Die Charlatanerie war als eine Nothwendigkeit in der Sitte anerkannt, so lange man Perücken und Zöpfe trug, darum ist es ganz in der Ordnung, daß auch die Zöpfe der heutigen Welt noch so große Stücke auf allerlei gelehrten und amtlichen Hokuspokus halten.

      Es gehörten aber auch für einen zunftgerechten Kalendermacher in der That ganz absonderliche Kenntnisse dazu – freilich theilte er sie mit manchem Schäfer und Scharfrichter – um die letzten Reminiscenzen von Astrologie, Wahrsagerei und Zeichendeuterei, deren Verständniß in diesem Zeitalter nur noch schwach fortdämmerte, mit gehöriger Sicherheit anzuwenden. Das bunte Gemisch von System und Willkür, von alter mystischer Überlieferung und neuer rationalistischer Kritik macht die Kalender des achtzehnten Jahrhunderts als Urkundenbücher des absterbenden Volksaberglaubens besonders interessant. So ist z.B. in den Tabellen, welche angeben, was aus der Farbe des beim Aderlaß abgezapften Blutes zu Prophezeien sei, der alte Aberglaube mit wirklichen physiologischen Beobachtungen und Folgerungen aufs seltsamste verwebt, und die diätetischen Regeln bekunden die instinktive Weisheit des medicinischen Volksglaubens, der eben so oft durch seine klare Erkenntnis; den Naturforscher überrascht wie durch das Helldunkel seiner uralten Symbolik den Germanisten. Bei dem sogenannte» »Aderlaßmännlein,« nämlich bei der Tabelle über die Tage, wann es gut oder schlecht zur Ader zu lassen sei, ist namentlich die altheidnische symbolische und astrologische »Erwählung« noch in ihrer vollen Reinheit beibehalten. Die Aderlaßtafel regelt sich nach dem Mondwechsel, und jeder der dreißig Tage des Mondlaufs hat seine stehende Bedeutung, die aber für alle Jahreszeiten und Monate die gleiche ist. Wer z.B. am siebenten Tage nach dem Neumond zur Ader läßt, bekommt Augenschmerzen, wer am vierten, stirbt eines jähen Todes, wer am 25. der wird klüger und verständiger. Diese Aderlaßtafel hat merkwürdig lange ihren Platz behauptet; sie ist in vielen Kalendern sogar in's neunzehnte Jahrhundert herübergeführt worden. Bei den lehrsamen rationalistischen Kalendern aus den ersten Jahrzehnten der Aufklärungsperiode macht es einen äußerst komischen Eindruck, die eifrigsten Predigten wider den Aberglauben im Texte zu lesen, während gegenüber bei den einzelnen Monatstagen noch der ganze Hokuspokus der schwarzen und rothen Erwählungs- und Vordeutungszeichen abgedruckt ist, und auf dem Titelblatt noch die astrologische Erklärung der Constellationen, und auf dem Schlußblatt die Aderlaßtafel prangt. Es erinnert dieß an die bekannte Geschichte von dem Schiff, welches in der Passagierkajüte englische Missionäre und im Güterraum Götzenbilder englischen Fabrikates nach Indien führte. So ließ man auch noch lange das Aushängeschild der Prophezeiung auf den Kalendertiteln fortbestehen, wahrend inwendig höchstens noch das Wetter prophezeit wurde, und der »Astrologische Sibyllen- und Weissagungskalender« bringt zur Zeit der französischen Revolution nur noch Orakelsprüche, wozu es der auf dem Titel prangenden Bilder der vier Sibyllen nicht bedurft hätte, wie etwa auf den blutgetränkten September 1793: »Wie lacht der Ueberfluß und welchen reichen Segen will nicht Pomona itzt vor unsre Füße legen!«

      Die durchgängige Fortführung der Aderlaßtafel in der Spätzeit des achtzehnten Jahrhunderts ist übrigens auch um deßwillen beachtenswerth, weil sie eigentlich auf Lebensgewohnheiten berechnet ist, die damals im Allgemeinen kaum mehr existirten. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert war es ein weitverbreiteter Brauch, selbst bei dem gemeinen Mann, durch häufiges periodisches Blutabzapfen bei gesundem Leibe, durch Abführungen und Schwitzbäder sich vor Krankheiten zu schützen. Purgiren, Aderlassen und Schwitzen vertrat bei den Altvordern die Stelle unserer Landausflüge und Badereisen. Damals waren die Baderstuben öffentliche Lokale, annähernd von einer Bedeutung für den geselligen Verkehr wie jetzt die Wirthshäuser, Conditoreien und Kursäle. Man ließ sich kollegialisch schröpfen, wie man kollegialisch kneipt. In der damaligen Volkslitteratur finden wir zahllose Gleichnisse und Redebilder von dem Treiben in den Baderstuben hergenommen, und auf politisch-satyrischen Holzschnitten aus der Zeit des dreißigjährigen Kriegs sind die Fürsten häufig als Badergesellen dargestellt, die den Völkern gehörig Schröpfköpfe aufsetzen und die Ader schlagen; statt des Blutes rinnen dann Goldstücke hervor. Damals also hatte das Aderlaßmännlein in den Kalendern noch einen Sinn. Vor sechzig Jahren dagegen standen die Menschen schon längst nicht mehr so voll im Safte, daß sie sich aus bloßer Vorsicht regelmäßig Blut hätten abzapfen müssen. Gewiß war dieß wenigstens nicht nicht bei dem Mittelstande der Fall, auf welchen jene Kalender zunächst zielten, wählend sich bei vereinzelten abgeschlossenen Bauernschaften allerdings ein Nachklang der seltsamen Sitte des periodischen Aderlasses bis auf unsere Tage erhalten hat. Allein auch der Kleinbürger wollte zu unserer Großväter Zeit die altgewohnten Erwählungen der Aderlaßtafel nicht missen, obgleich er hier eigentlich gar nichts mehr zu erwählen hatte.

      In der Beschreibung der Planeten, ihrer »Eigenschaften, natürlichen Zuneigungen und Bedeutungen« spielten die letzten Nachklänge der mittelalterlichen Mystik der Naturkunde in das aufgeklärte achtzehnte Jahrhundert herüber. Aber auch eine moderne Schule der Naturphilosophie hat die Qualitäten der Planeten wieder ganz ähnlich phantastisch ausgedichtet wie der Kalenderschreiber vor hundert Jahren. Dieser gibt jedem Planeten nach alter Ueberlieferung ein besonderes Temperament. Saturn ist kalt und trocken, Jupiter warm und feucht, Mars hitzig und trocken, Venus feucht und warm, Merkur warm und trocken. Dazu kommt die Sonne, die heiß und trocken, und der Mond, der kalt und feucht ist. Der Gedanke von unterschiedenen Temperamenten der Gestirne ist uralte Volkspoesie, die bis in's deutsche Heidenthum hinaufreicht. In einer Sage aus der Grafschaft Mark wird dem nachherigen Mann im Mond, als ihn der Herr zur Rechenschaft zieht, die Wahl gelassen ob er in der Sonne verbrennen oder im Mond erfrieren wolle. Er zieht das Erfrieren vor und läßt sich in den kalten Mond setzen.

      Aus den Thierkreiszeichen, welche die einzelnen Monate charakterisiren, weissagt man den Charakter der im Monat Geborenen, aus planetarischen Constellationen den Gesundheitszustand des kommenden Jahres. Die Staatsprognostica aber werden eben so gut wie das Wetter nach den Mondwechseln berechnet, und dieses Zusammenwerfen des Wetters und der Politik hat gewiß eine tiefe humoristische Wahrheit für eine Zeit, wo das Staatsregiment noch wie eine andere göttliche Weltordnung über den Häuptern der Unterthanen stand. Die Staatsprognostica sind meist in delphischem Doppelsinn abgefaßt: Epigramme und Sinnsprüche, die man damals von Lessing bis zu den Kalenderschreibern herab viel selbständiger kultivirte als heutzutage, dazu aber auch allegorische Räthselspiele in Holzschnitten, die mit mythologischen Figuren, Wappen und Devisen überdeckt sind. Letzteres deutet auf das siebzehnte Jahrhundert zurück, wo nicht nur der Gelehrte, sondern auch der schlichte Bürger sich an derlei harten Nüssen gern die Zähne ausbrach. Auf den zahllosen fliegenden Blättern dieser früheren Zeit ist die politische Satyre fast immer in allegorischen Gestalten versteckt, und selbst der Handwerker muß in den Tagen des dreißigjährigen Krieges oft mehr Mythologie im Gedächtniß gehabt haben, als gegenwärtig mancher litterarisch Gebildete. Auch jene Einblattdrucke fanden also ihre letzte Zuflucht in den Volkskalendern, wie denn überhaupt das fliegende Blatt des siebzehnten Jahrhunderts aufgegangen ist zum Theil in der Zeitung, zum Theil im Kalender des achtzehnten. In unsern Tagen hat endlich die letzte Siegerin, die Journalistik, auch die Publicistische Hälfte der alten Kalender in ihrem allverschlingenden Vorrathshause geborgen.

      Ganz eigenthümlich sind die »Beschreibungen der Gewitter« im alten Hauskalender gewesen. In diese Vorherverkündigungen aller einzelnen Gewitter des Jahres und die daran geknüpfte Deutung spielt noch das altdeutsche Heidenthum herüber, welches so mancherlei Bezüge des Cultus und der Weissagung im Gewitter fand und den rothbärtigen Donnar nicht blos als einen donnernden Jupiter verehrte, sondern auch als einen Gott des Landmannes und des Ackerbaus. Kein Volk macht sich wohl in Spruch und Fluch so viel mit Donner und Wetter zu schaffen, wie das germanische, und ein Kalender, welcher in den Sommermonaten nicht wenigstens jede Woche ein Donnerwetter aufziehen läßt, wäre vor hundert Jahren gar kein ächter Volkskalender gewesen.

      Wollte ein Germanist der Geschichte des Kalenders Schritt für Schritt folgen, so könnte er damit aufs natürlichste eine systematische Darstellung des ganzen deutschen Volksaberglaubens und eines guten Stückes der Volkssitten verbinden. Für eine Zeit, wo man es noch nicht der Mühe


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