In Freiheit dienen. Magnus Malm
Читать онлайн книгу.Das bestätigt nicht zuletzt die jesuitische Tradition. Es dürfte ziemlich schwer sein, sich während der mehrjährigen Priesterausbildung zweier 30-Tage-Exerzitien zu unterziehen, ohne sich mit seinem tiefsten Innern auseinanderzusetzen und dadurch eine tragfähige Beziehung zu Christus aufzubauen. So kann das Amt zu einem Ausdruck der Beziehung werden, statt den Mangel an Beziehung zu verbergen.
Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist Berufung. Dieses Wort klingt für jeden anders. Für manche klingt es nach Trauer, Gram und Bitterkeit: »Ich habe mich einmal berufen gefühlt und Nein gesagt. Seitdem habe ich die Beziehung zu Gott nicht mehr in Ordnung bringen können.« Für andere schwingt eine gewisse Unfreiheit mit: »Eigentlich gefällt es mir nicht, in der Kirche zu arbeiten, aber man muss seine Berufung ja erfüllen.« Für wieder andere ist Berufung ein schwebendes Gefühl der Unsicherheit, das sie nie loslässt: »Ich weiß nicht, ob ich wirklich berufen bin. Manchmal glaube ich daran, aber oft zweifle ich.« Und für die überwältigende Mehrheit bezieht sich Berufung immer noch vornehmlich auf die Arbeit, nicht auf die Beziehung.
Bei einem kurzen Blick in die Bibel wird man schnell Lunte riechen: Berufung bedeutet durchweg, dass Gott Leute aus dem, was bindet und klein macht, herausruft und stattdessen in eine tiefere Beziehung zu ihm führt, wo sie in Freiheit zu seinen Abbildern heranwachsen können. Einige Eindrücke aus der Geschichte:
• Die Schöpfung ist das erste Beispiel. Im Römerbrief steht, wie Gott »ins Dasein ruft, was vorher nicht war« (Römer 4,17). Ein Hinweis darauf, dass Gottes Berufung weit mehr ist als eine Herausforderung. Sie ist schöpferisches Wort, das aus dem Nichts hervorruft, was seinen Willen formt und seine Herrlichkeit zeigt.
• Abraham war im Glauben gehorsam, »als Gott ihn aufforderte, seine Heimat zu verlassen und in ein anderes Land zu ziehen, das Gott ihm als Erbe geben würde. Er ging, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führen würde« (Hebräer 11,8). Durch sein schwindelerregendes Abenteuer wurde er zum Glaubensvater für Juden, Christen und Muslime und zeigt Gottes Treue weit über den ursprünglichen Kontext hinaus.
• Israels Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten wird vom Propheten Hosea als Antwort auf Gottes Ruf beschrieben: »Als Israel jung war, habe ich es in mein Herz geschlossen, und ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen. Immer, wenn ich ihn rief, lief er vor mir davon.« Warum ziehen wir uns zurück, wenn Gott ruft? Vielleicht aus dem gleichen Grund, wie Hosea vermutet: »Sie waren sich aber gar nicht bewusst, dass ich es war, der sie geheilt hatte« (Hosea 11,1-3).
• Die Umkehr zu Jesus wird durch alle Evangelien hinweg als Berufung beschrieben. Beispielsweise als Jesus den Zöllner Matthäus trifft und ihn nach einem Fest gegen die Kritik der Frommen verteidigt: »Die Gesunden brauchen keinen Arzt – wohl aber die Kranken. Nun geht und denkt einmal darüber nach, was mit dem Wort in der Schrift gemeint ist: ›Ich will, dass ihr barmherzig seid; eure Opfer will ich nicht.‹ Denn ich bin für die Sünder gekommen und nicht für die, die meinen, sie seien schon gut genug« (Matthäus 9,9-13). Auch hier wird wieder betont, dass Berufung mit Heilung einhergeht.
• Der Tod ist nach Auffassung dieser Welt die unwiderrufliche Endstation. Doch Jesus öffnet auch diese Tür. Und auch hier zeigt sich die befreiende Kraft in Jesu Ruf: »… wie Jesus Lazarus aus dem Grab ins Leben zurückgerufen hatte« (Johannes 12,17).
Es gibt also in der Berufung immer ein Woher und ein Wohin. Aus dem grundlegenden Angerührtsein hin zu größerer Nähe zu Jesus und größerer Freiheit, man selbst zu sein. In diesem Muster werden viele Motive offenbar: Aus der Dunkelheit zum Licht. Aus der Abhängigkeit zur Freiheit. Von der Lüge zur Wahrheit. Vom Tod zum Leben. Von der Sünde zur Gerechtigkeit. Aus der Einsamkeit zur Gemeinschaft. Vom Bild zur Wirklichkeit. Aus der Zersplitterung zum Zusammenhang. Vom Produzieren zum Empfangen. Vom Stress zur Präsenz. Und so weiter.
Man kann also an seinem Bauchgefühl erkennen, ob man Gottes Ruf richtig verstanden hat. Wenn man sich gezwungen, beengt und unecht fühlt, kann man sicher sein, dass das nicht von Gott kommt. Dann bewirkt es schon eine gewisse innere Freiheit, wenn man beginnt, die eigene Situation infrage zu stellen und andere Türen zu öffnen. Gott beruft einen Menschen nicht einfach auf solche Weise. Das stellt auch Paulus kategorisch fest: »Der Herr aber ist der Geist, und wo immer der Geist des Herrn ist, ist Freiheit« (2. Korinther 3,17).
Das bedeutet auch, dass die biblische Sicht auf Berufung eher das Gegenteil jener Berufung ist, die Menschen in einen eisernen Griff von »Gottes Willen« einschließt und jene ausgrenzt, die den Ruf nicht erfahren haben.
Ein Spinnennetz aus Illusionen
Für manche ist der Ruf Jesu eher eine Einladung, der Spiritualität zu entkommen. Und zwar dann, wenn er in jene spezielle religiöse Verdrehung der Wirklichkeit hineinspricht, die den Philosophen Martin Buber ausrufen ließ: »In der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie Religion!« Dabei kann es, wie gesagt, um eine Führungsfunktion gehen, die uns unbemerkt uns selbst und anderen entfremdet hat. Es kann auch um innerkirchliche Debatten und Verhaltensmuster gehen, die die Macht über uns gewonnen haben und uns nun daran hindern, das Wesentliche zu sehen.
Es kann sogar so sein, dass wir tiefgründige geistliche Bücher lesen und viel über »das innere Leben« lernen – aber eigentlich fliehen wir damit nur vor der eigentlichen Konfrontation mit dem eigenen Innern. Thomas Merton schreibt über die besondere Herausforderung, in einem geistlichen Umfeld geistlich zu leiten:
Manchmal scheint es, als sei »das innere Leben« nur wenig mehr als ein Spinnennetz aus Illusionen. Gesponnen aus Jargon und frommen Sätzen, die wir in Büchern und Predigten gefunden haben und mit denen wir unser Inneres eher verstecken als offenbaren. Wie oft ist der Wegbegleiter betrübt und niedergeschlagen, wenn er jenen zuhört, die achtenswerte religiöse Seelen zu sein scheinen […] und dann merkt, dass er es mit prachtvoller und unbewusster Selbstgefälligkeit zu tun hat, die sich mit Klischees frommer Autoren ausgerüstet hat und nun bereit ist, jedem Erfolg von Demut und Wahrheit zu widerstehen.
Sein Herz zieht sich in einer Art Hoffnungslosigkeit zusammen. Einem Gefühl, dass es keine Möglichkeit gibt, durchzubrechen und den echten Menschen zu befreien, der unter der falschen Fassade, die sich bedauerlicherweise als Ergebnis religiöser Missbildung entwickelt hat, lebendig begraben liegt.11
Mit Selbstironie lässt sich leicht testen, ob die Diagnose »Überspiritualität« zutrifft. Kann die Person über sich selbst lachen? Ein chronisch ichbezogener Mensch hat viel zu viel zu tun, um sich solchen Trivialitäten zu widmen. Merton schreibt: »Ein kontemplativer Mensch ist nicht jemand, der seine Gebete ernst nimmt, sondern jemand, der Gott ernst nimmt.«12
Die Pharisäer und Schriftgelehrten in den Evangelien spiegeln auf zeitlose Weise die Risiken, die eine »professionelle Spiritualität« mit sich bringt. Die Führungsrolle mit all ihren Attributen wie Kleidung, Gesten, Attitüde, Sprache und so weiter wird allzu leicht ein Fluchtweg aus dem eigenen Leben. Dabei schrumpft die Kontaktfläche sowohl zu Gott als auch zu den Menschen und die Beziehung bekommt immer weniger Luft.
Das Wesentliche
Es muss ein Erstickungsgefühl gewesen sein, das einen der Schriftgelehrten dazu trieb, Jesus eine Frage zu stellen. Zumindest im Markusevangelium wird diese Frage nicht als Falle aufgefasst, sondern ist verzweifelte und aufrichtige Frage darüber, was das Wesentliche in all der Religiosität ist.
Einer der Schriftgelehrten stand dabei und hörte dem Gespräch zu. Er merkte, wie gut Jesus geantwortet hatte; deshalb fragte er ihn: »Welches von allen Geboten ist das wichtigste?« Jesus antwortete: »Das wichtigste Gebot ist dies: ›Höre, o Israel! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft lieben.‹ Das zweite ist ebenso wichtig: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.« Der Schriftgelehrte erwiderte: »Das hast du sehr gut gesagt, Lehrer.«
Markus 12,30-32
Es sind zwei Gebote, nicht eins. Zwei gegensätzliche Kräfte versuchen ständig, jeweils eines der