Keine Panik, ehrliche Spiegel altern immer mit!. Arno Backhaus
Читать онлайн книгу.erzählt hat, wohl auch er. Manche Verhaltensweisen meiner Mutter passen genau in das AD(H)S-Raster:
• Sie war extrem vergesslich, und um die Dinge behalten zu können, schrieb sie alles Wichtige in ein kleines schwarzes Vokabelheft.
• Sie war, was soziale Aktionen betraf, übermäßig hilfsbereit. Immer mal wieder lud sie Obdachlose zu uns zum Essen ein und gab ihnen sogar manchmal Geld mit auf den Weg.
• Sie war impulsiv, im Negativen wie im Positiven.
• Bis ins hohe Alter fuhr sie immer wieder in die Innenstadt von Kassel. Dort hielt sie sich in der Fußgängerzone auf, kaufte eine Kleinigkeit und setzte sich in ein Café. Sicherlich hat sie eine Abwechslung zu ihrem Alltag gesucht. Die Schaufenster, die vielen Menschen und das Gewusel müssen ihr immer wieder einen »Kick« gegeben haben.
Meine Mutter war, was meine Erziehung betraf, völlig hilflos. Sie wusste ja nichts von AD(H)S und dachte, ich sei »einfach nur ungezogen«. Der für mich positive Nebeneffekt bestand darin, dass es mir kaum etwas ausmachte, wenn sie mit mir schimpfte.
Aber wehe, wenn mein Vater ärgerlich wurde! Dann habe ich mich jedes Mal in Grund und Boden geschämt. Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt. Und zwar nicht, weil er mich hart bestraft oder heftig getadelt hätte. Sondern mein Vater hatte eine natürliche Autorität, die mich anhand seiner Blicke wissen ließ, dass ich ihn enttäuscht hatte. Diese Blicke waren schlimmer als die Schläge meiner Mutter und schmerzhafter noch dazu. Sie trafen nämlich meine Seele.
Einmal habe ich meinem Vater zum Geburtstag ein Buch geschenkt. Schön, wenn die Geschichte hier schon zu Ende wäre, nicht wahr?
Ist sie aber nicht.
Mein Vater hat sich gar nicht über das Buch gefreut.
Warum? Er kannte das Buch bereits.
Auch jetzt fehlt noch etwas zur Vervollständigung der Story:
Es gehörte ihm nämlich schon. Ich hatte es aus seinem Bücherregal stibitzt, hübsch eingepackt und dann stolz auf seinen Geburtstagstisch gelegt. In der festen Überzeugung, dass dieser Schwindel nicht auffliegen würde.
Aber mein Vater war über den Bestand seiner Bücher absolut im Bilde.
Seinen Blick werde ich nie vergessen. Es gab keine Strafe oder Standpauke. Er war einfach enttäuscht, dass ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, etwas für ihn zu besorgen, und dann auch noch meinte, dass er den Trick nicht durchschauen würde.
Das hat gesessen. Seitdem habe ich mir deutlich mehr Mühe in solchen Dingen gegeben.
Wenn wir meiner Mutter ein Geschenk gemacht haben, hat sie als Allererstes gefragt: »Was hat das denn gekostet?«
Geld war immer ein wichtiges Thema bei uns zu Hause. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn wir hatten genug. Nicht im Überfluss, aber doch genug, um nicht jeden Pfennig umdrehen zu müssen. Ein Grund dafür war, dass mein Vater, als ich fünf Jahre alt war, zum Regierungspräsidium in Kassel versetzt wurde.
Das bedeutete zwar für uns als Familie mehr Geld, aber für mich persönlich hieß es: Raus aus der Kleinstadt Frankenberg und hinein in eine Großstadt, in der ich weniger Möglichkeiten hatte, mich zu bewegen. Und das wurde mir zum Verhängnis.
Mein persönlicher Start in Kassel fiel dann auch eher mittelmäßig aus.
Als im Jahr 1955 die Umzugskisten noch offen in unserer neuen Wohnung standen, die wichtigsten Gegenstände aber bereits ihren Platz gefunden hatten, spazierte meine Mutter mit mir durch die Innenstadt von Kassel. Hier war bereits im November 1953 die allererste Fußgängerzone Deutschlands eröffnet worden. Ein Konzept, das sich durchsetzen sollte.
Überhaupt war Kassel eine innovative Stadt, die sich glücklicherweise schnell von den Folgen des Zweiten Weltkriegs erholte. Kunst und Kultur boomten und das zog viele Leute aus nah und fern an. Auch viele Autofahrer.
Der neue Innenstadtring ermöglichte es sowohl Einheimischen als auch Gästen, nah an die Fußgängerzone heranzufahren. Diese Tatsache zog eine weitere Modernisierungsmaßnahme nach sich: 1961 führte Kassel als allererste Stadt in Deutschland die Parkscheibe ein.
Aus meiner kindlichen Sicht war Kassel allerdings eine einzige Enttäuschung. Das kann doch unmöglich ein vernünftiger Ort zum Leben sein, dachte ich mir, während wir an den Geschäften und den noch vorhandenen Ruinen vorbeischlenderten. Wo sind die Felder, die Wiesen, die Weite?
Wo ich hinsah, gab es nur Menschen und langweilige Geschäfte. Dazu kamen die ständigen Ermahnungen meiner Mutter, dass ich mich bloß nicht von ihr entfernen sollte. Wo soll ich denn hier spielen? Ich fühlte mich sehr unwohl in meiner Haut.
Dabei habe ich Großstädte schon damals durchaus schätzen gelernt. Denn meine Eltern haben mich in den Sommerferien regelmäßig zu Opa und Oma nach Berlin geschickt. Mehr Großstadt geht ja nicht.
Allerdings ist Berlin-Lankwitz ein eher beschaulicher Stadtteil: sehr dörflich geprägt, aber trotzdem mit der geballten Kraft einer Metropole im Rücken. Und die Bedingungen waren für mich dort deutlich besser als zu Hause, weil meine Großeltern sich Zeit für mich nahmen.
Die Zeit mit meinen Großeltern aus Berlin war sehr entspannend!
Das ist ja das Schöne an Oma und Opa – wenn alles gut läuft, profitieren sämtliche Beteiligten von dem Mehrgenerationen-Engagement: Die Großeltern sind glücklich, die Enkel beschäftigt und die Eltern entlastet.
Jetzt, da ich selbst dem vollzeitlichen Elterndasein entwachsen bin und mich sehr konkret auf meine Großelternrolle konzentrieren kann, muss ich sagen: Eine wunderbare Erfindung, dieses Familienkonzept. Wir wohnen mit einem Teil unserer Kinder und Enkel unter einem Dach und mögen es sehr.
Manchmal sage ich verschmitzt: »Wenn ich das gewusst hätte, wie schön es mit Enkeln ist, hätte ich mit denen angefangen!«
Denn ich liebe es, mit meinen Enkelkindern Zeit zu verbringen. Aber ich genieße es ebenfalls, dass diese Zeiten begrenzt sind: Irgendwann können Hanna und ich die Kinder wieder zu ihren Eltern schicken und uns um unsere eigenen Dinge kümmern. Das ist insofern wichtig, als wir durch unsere bundesweite Vortragsarbeit viel unterwegs sind.
Meine Großeltern waren bestimmt auch jedes Mal froh, wenn der kleine Arno wieder im Zug nach Kassel saß. Aber sie haben sich wirklich aufopferungsvoll um meine Freizeitgestaltung gekümmert. In Berlin habe ich die Tierwelt lieben gelernt: Ich kann mich an wunderbare Besuche im Berliner Zoo erinnern.
Auch das erste halbe Brathähnchen