Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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diesem Gemach stand ein, halbbeendigtes Frühstück von Kaffee und gerösteten Brotschnitten für zwei Personen auf einem elenden Tische unordentlich durcheinander.

      Es war niemand da. Der alte Mann, der nach einigem Bedenken vor sich hinmurmelte, daß Fanny davongelaufen, ging nach dem nächsten Zimmer, um sie zurückzuholen. Der Fremde, der bemerkte, daß sie die Tür von innen festhielt, und daß, als der Onkel sie aufzuziehen suchte, ihn jemand laut beschwor: »Laßt doch gehen!« während schlaffe Strümpfe und Flanellröcke umherlagen, schloß, daß das junge Mädchen im Negligé sei. Der Onkel, der keinen Schluß zu ziehen schien, schlürfte wieder herbei, setzte sich auf seinen Stuhl und begann die Hände an dem Feuer zu wärmen. Nicht daß es kalt gewesen oder daß er eine dunkle Vorstellung von Wärme und Kälte in diesem Augenblick gehabt – er tat es unbewußt.

      »Was dachten Sie von meinem Bruder, Sir?« fragte er, als er nach und nach entdeckte, was er tat, die Hände zurückzog, nach dem Kaminmantel langte und seine Klarinettkapsel herunterholte.

      »Ich freute mich«, sagte Arthur sehr verlegen; denn seine Gedanken waren bei dem Bruder, der vor ihm saß, »ich freute mich, ihn so wohl und heiter zu finden.«

      »Ha!« murmelte der alte Mann. »Ja, ja, ja, ja, ja!"«

      Arthur war begierig zu erfahren, wozu er die Klarinettkapsel brauche. Er brauchte sie aber durchaus nicht. Er entdeckte bald, daß es nicht die kleine Papiertüte mit Schnupftabak war (die gleichfalls auf dem Kamin lag), legte sie wieder an ihre Stelle, nahm den Schnupftabak dafür und tröstete sich mit einer Prise. Er war so schwach, sparsam und langsam in seinen Prisen wie in allem andern, aber ein gewisses leichtes Zucken des Genusses spielte um die armen ausgemergelten Nerven in den Winkeln seiner Augen und seines Mundes.

      »Amy, Mr. Clennam. Was halten Sie von ihr?«

      »Alles, was ich von ihr gesehen und über sie gedacht, Mr. Dorrit, hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«

      »Mein Bruder wäre ohne Amy ganz verloren gewesen«, versetzte er. »Wir wären alle ohne Amy verloren gewesen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, die Amy. Sie tut ihre Pflicht."

      Arthur glaubte, wie am Abend vorher bei dem Vater, aus diesen Lobeserhebungen den Ton der Gewohnheit herauszuhören, während im Innern der Lobenden ein gewisses widerstrebendes Gefühl vorzuherrschen schien. Nicht daß sie ihrem Lob Abbruch getan oder gefühllos für das gewesen, was sie ihnen tat; aber sie waren beinahe bis zur Gleichgültigkeit an sie gewöhnt wie an alles übrige in ihrer Lage. Er glaubte, daß, obgleich sie tagtäglich den Vergleich zwischen ihr und einer andern und sich selbst anzustellen Gelegenheit hatten, sie sie doch als ein Wesen betrachteten, das eben einfach an ihrem notwendigen Platz stünde und eine Stellung zu ihnen allen einnehme, die ihr zu eigen sei wie ihr Name oder ihr Alter. Er glaubte, daß sie sie nicht als ein Geschöpf betrachteten, das über die Gefängnisatmosphäre erhaben sei, sondern als ein solches, das mitten darein gehöre, kurz als das, was sie von ihr erwarten konnten und nicht mehr.

      Ihr Onkel nahm sein Frühstück wieder auf und kaute geröstetes Brot, das er in den Kaffee tauchte; er hatte seinen Gast längst vergessen, als man die dritte Glocke läuten hörte. Das sei Amy, sagte er, und ging hinab, um ihr aufzuschließen, während der Fremde noch immer das Bild seiner schmutzigen Hände, seines schmutzigen und abgezehrten Gesichtes, seiner gebeugten Gestalt vor sich zu haben glaubte, als säße er leibhaftig auf dem eben verlassenen Stuhle.

      Sie kam hinter ihm die Treppe herauf, in dem gewöhnlichen einfachen Kleide und mit der gewöhnlichen schüchternen Haltung. Ihre Lippen waren etwas geöffnet, als ob ihr Herz heftiger denn sonst pochte.

      »Amy«, sagte ihr Onkel, »Mr. Clennam hat einige Zeit auf dich gewartet.«

      »Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen etwas bestellen zu lassen.«

      »Es wurde mir ausgerichtet, Sir.«

      »Gehen Sie diesen Morgen zu meiner Mutter? Ich denke nicht; denn Ihre gewöhnliche Stunde ist vorbei.«

      »Heute nicht, Sir. Man braucht mich heute nicht.«

      »Wollen Sie mir gestatten. Sie einen Teil des Weges zu begleiten, wohin Sie auch gehen mögen? Ich kann dann während des Gehens mit Ihnen sprechen und brauche Sie auf solche Weise nicht hier aufzuhalten und mich selbst nicht länger hier aufzudrängen.«

      Sie schien verlegen, sagte jedoch, wenn es ihm beliebe, so sei sie bereit. Er tat, als ob er seinen Spazierstock verlegt habe, um ihr Zeit zu lassen, die Bettstelle in Ordnung zu bringen, dem ungeduldigen Pochen der Schwester an der Wand zu antworten und ihrem Onkel etwas leise zu sagen. Dann fand er den Stock, und sie gingen die Treppe hinab; sie voraus, er hintendrein, während der Onkel auf der obersten Stufe stand und sie wahrscheinlich vergessen hatte, ehe sie unten angekommen waren.

      Mr. Cripples' Zöglinge, die inzwischen zur Schule gekommen waren, hielten in ihrer Morgenbelustigung, sich mit Büchermappen und Büchern zu schlagen, inne, um restlos hingegeben einen Fremden anzustarren, der den »schmutzigen Dick« besucht hatte. Sie ertrugen schweigend die harte Probe dieses Schauspiels, bis der geheimnisvolle Fremde in sicherer Entfernung von ihnen war: dann warfen sie mit Kieselsteinen und schrien und machten höhnische Sprünge und zerbrachen die Friedenspfeife mit so vielen wilden Zeremonien, daß, wenn Mr. Cripples der Häuptling des kriegerischen Cripplewayboostammes gewesen, sie kaum seiner Erziehung größere Gerechtigkeit hätten widerfahren lassen können.

      Während dieser Huldigung bot Mr. Arthur Clennam Klein-Dorrit seinen Arm an, und Klein-Dorrit nahm ihn. »Wollen Sie den Weg nach der Iron Bridge einschlagen?« sagte er, »dort entkommen wir dem Straßengeräusch.« Klein-Dorrit antwortete: »wenn's ihm gefällig sei« und fügte die Erwartung hinzu, daß er sich nicht durch Mr. Cripples' Zöglinge »kränken lassen solle«; denn sie habe selbst ihre bisherige Erziehung in Mr. Cripples' Abendschule erhalten. Er erwiderte mit der größten Bereitwilligkeit von der Welt, daß er Mr. Cripples' Jungen von ganzer Seele verzeihe. Auf solche Weise wurde Cripples unbewußt der Zeremonienmeister zwischen ihnen und brachte sie auf natürlichere Weise zusammen, als es Beau Nash gelungen wäre, wenn sie in seinen goldenen Zeiten gelebt und er selbst aus seiner Kutsche mit sechs Pferden deshalb gesprungen wäre.

      Der Morgen blieb stürmisch, und die Straßen waren sehr schmutzig, aber es fiel kein Regen, solange sie nach der Iron Bridge wandelten. Das kleine Geschöpf erschien ihm so jung, daß es Augenblicke gab, in denen er von ihr wie von einem Kinde dachte, wenn er sie auch im Gespräch nicht als solches behandelte. Vielleicht erschien er ihr so alt, wie sie ihm jung.

      »Ich habe mit Bedauern gehört, daß Sie in vergangener Nacht die Unannehmlichkeit hatten, eingeschlossen zu werden. Es war wirklich sehr fatal.«

      Es habe nichts zu bedeuten, antwortete er. Er habe ein sehr gutes Bett gehabt.

      »O ja!« sagte sie lebhaft, sie glaube, daß es vortreffliche Betten in jenem Kaffeehaus geben müsse. Es schien, daß das Kaffeehaus in ihren Augen ein majestätisches Hotel war und daß sie seinen Ruf hoch anschlug.

      »Ich glaube, es ist sehr teuer«, sagte Klein-Dorrit, »aber mein Vater sagte mir, daß man dort vortreffliche Diners mache, und der Wein erst«, fügte sie schüchtern hinzu.

      »Waren Sie jemals dort?«

      »O nein! Nur in der Küche, um heißes Wasser zu holen.«

      Man denke sich, daß man mit einer Art heiliger Scheu vor dem Luxus dieses glänzenden Etablissements, des Marschallgefängnishotels, aufwachsen kann!

      »Ich fragte Sie gestern abend«, sagte Clennam, »wie Sie mit meiner Mutter bekannt wurden? Haben Sie je ihren Namen gehört, ehe sie nach Ihnen schickte?«

      »Nein, Sir.«

      »Glauben Sie, daß Ihr Vater ihn kannte?« »Nein, Sir.«

      Er begegnete ihren Augen, die mit so viel Verwunderung zu ihm erhoben waren (sie erschrak bei dieser Begegnung und blickte auf die Seite), daß er es für notwendig hielt, zu sagen:

      »Ich habe einen Grund zu dieser Frage, den ich Ihnen nicht gut auseinandersetzen kann. Aber Sie dürfen ihn durchaus nicht für etwas ansehen, das Ihnen im mindesten


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