Klein-Doritt. Charles Dickens

Читать онлайн книгу.

Klein-Doritt - Charles Dickens


Скачать книгу
an dem Ton, in dem sie sprach, daß sie mit halb geöffneten Lippen zu ihm aufsah. Deshalb blickte er vor sich hin, um ihr Herz durch eine neue Verlegenheit nicht noch heftiger schlagen zu machen.

      So kamen sie nach Iron Bridge, die nach dem Geräusch der Straßen ihnen so ruhig und still erschien, als ob es das offne Feld wäre. Der Wind blies heftig, die nassen Windstöße stoben an ihnen vorüber, daß die Pfützen auf Straßen und Pflaster schäumten und nach dem Fluß hinuntergetrieben wurden. Die Wolken stürmten in wildem Ungestüm an dem bleifarbigen Himmel hin, Rauch und Nebel jagten ihnen nach, und der dunkle Strom wälzte sich mit dumpfem Rauschen in derselben Richtung fort. Klein-Dorrit schien das letzte, stillste und schwächste Geschöpf des Himmels.

      »Lassen Sie mich einen Wagen für Sie holen«, sagte Arthur und fügte rasch: »Mein armes Kind« hinzu.

      Sie lehnte es ebenso rasch ab und sagte, daß ihr trocken oder naß ziemlich gleichgültig sei. Sie sei gewöhnt, bei jeglichem Wetter auszugehen. Er wußte, daß dem so war, und fühlte noch größeres Mitleid, wenn er an das schwächliche Wesen an seiner Seite dachte, das seinen nächtlichen Weg durch die dumpfen, finstern, unruhigen Straßen nach jenem stillen Ort machte.

      »Sie sprachen so gefühlvoll gestern abend mit mir, Sir, und ich fand später, daß Sie so freigebig gegen meinen Vater gewesen, daß ich Ihrer Aufforderung Folge leisten mußte, wenn auch nur, um Ihnen zu danken; namentlich, da ich sehr wünschte, Ihnen zu sagen« – sie zögerte und zitterte, und Tränen traten in ihre Augen, flossen jedoch nicht über ihre Wangen.

      »Mir zu sagen?«

      »Daß ich hoffe, Sie werden meinen Vater nicht mißverstehen. Beurteilen Sie ihn nicht mit dem Maßstab, mit dem Sie andere Menschen außerhalb des Gefängnisses beurteilen würden. Er war so lange darinnen! Ich sah ihn niemals hier außen, aber ich kann wohl begreifen, daß er in manchen Dingen sich sehr verändert haben muß.«

      »Ich werde nie ungerecht oder streng über ihn denken, glauben Sie mir.«

      »Nicht«, sagte sie mit einer stolzen Miene, da die Besorgnis in ihr aufstieg, sie möchte ihn preiszugeben scheinen, »nicht, daß er in irgendeiner Beziehung zu erröten hätte oder daß ich seinetwegen irgendwie erröten müßte. Er muß nur verstanden werden. Ich fordere bloß, daß man sein Leben genau berücksichtigt. Alles, was er sagte, ist vollkommen wahr. Es ist alles geschehen, wie er erzählte. Er ist sehr geachtet und geehrt. Jedermann, der hineinkommt, freut sich, ihn kennenzulernen. Es wird ihm mehr gehuldigt als irgend sonst jemandem. Man nimmt weit mehr Rücksicht auf ihn als auf den Marschall.«

      Wenn je ein Stolz unschuldig war, so war es der Klein-Dorrits, als sie für ihren Vater in die Lobposaune stieß.

      »Man hat häufig gesagt, daß sein Benehmen das eines echten Gentlemans und daß er ein wirkliches Vorbild sei. Ich kenne nichts Ähnliches an jenem Ort, aber man gibt auch seine Überlegenheit über alle zu. Dies ist ebensosehr der Grund, weshalb sie ihm Geschenke machen, wie weil sie wissen, daß er ihrer bedürftig ist. Man darf ihn wegen seiner Dürftigkeit nicht tadeln, den guten Vater. Wer wäre ein Vierteljahrhundert im Gefängnis und lebte noch in guten Vermögensverhältnissen!«

      Welche Liebe in ihren Worten, welches Mitleid in ihren unterdrückten Tränen, welche treue Seele, wie wahr das Licht, das eine falsche Helle um sich verbreitete!

      »Wenn ich es für gut fand zu verheimlichen, wo ich wohne, so geschah es nicht, weil ich mich seiner schäme. Gott verhüte es! Auch schäme ich mich des Gefängnisses nicht so sehr, wie man vielleicht vermutet. Die Leute sind nicht schlecht, weil sie dorthin kommen. Ich kannte viele vortreffliche, zuverlässige, ehrenwerte Menschen, die durch Unglück dahin kamen. Sie sind beinahe alle gutherzig gegeneinander. Und es wäre wirklich undankbar von mir, wenn ich vergessen wollte, daß ich manche ruhige, angenehme Stunde dort hatte; daß ich einen ausgezeichneten Freund dort besaß, als ich noch ein kleines Kind war, der mich innig liebte, daß ich dort erzogen wurde und dort arbeitete und eines gesunden Schlafes mich dort erfreute. Ich würde es beinahe für feig und grausam halten, wenn ich nach alledem nicht ein wenig Anhänglichkeit an jene Räume hätte.«

      Sie hatte die Fülle ihres redlichen Herzens vor ihm ausgeschüttet und fühlte sich dadurch erleichtert. Bescheiden fuhr sie fort und sah ihn fragend an: »Ich wollte nicht soviel sagen; auch habe ich diese Sache nie zuvor noch berührt. Aber es scheint mir, sie in ein besseres Licht zu stellen, als es dies verflossenen Abend der Fall war. Ich sagte, ich wünschte, Sie wären mir nicht gefolgt, Sir. Ich wünsche dies jetzt nicht mehr in dem Maße, wenn Sie nicht etwa denken sollten – wahrhaftig, ich wünsche es gar nicht mehr, wenn ich nicht etwa so verwirrt gesprochen haben sollte, daß – daß Sie mich kaum verstehen konnten, was, wie ich fürchte, wirklich der Fall war.«

      Er sagte ihr, wie es die Wahrheit war, daß dies nicht der Fall; und sich zwischen sie und den scharfen Wind und Regen stellend, schützte er sie, so gut es ging.

      »Ich glaube, daß es mir nun gestattet ist«, sagte er, »Sie etwas mehr über die Verhältnisse Ihres Vaters zu befragen. Hat er viele Gläubiger?«

      »Ach! leider sehr viele!«

      »Ich meine solche Gläubiger, die ihn an dem Ort festhalten, wo er ist.«

      »O ja, sehr viele.«

      »Können Sie mir sagen – ich kann zweifelsohne anderwärts darüber Nachrichten einziehen, wenn Sie sie mir nicht zu geben imstande sind –, wer ist der einflußreichste von ihnen?«

      Dorrit sagte, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht, daß sie vor langer Zeit häufig von Mr. Tite Barnacle als einem Mann von großer Macht habe sprechen hören. Er sei Kommissar, Ratsherr, Kurator oder »etwas der Art«. Er wohne auf dem Grosvenorplatz, glaube sie, oder dort in der Nähe. Er sei bei der Regierung – habe eine hohe Stellung bei dem Circumlocution Office. Sie schien in ihrer Kindheit einen unheimlichen Eindruck von der Macht dieses furchtbaren Mr. Tite Barnarle vom Grosvenorplatz oder dort in der Nähe und dem Circumlocution Office empfangen zu haben, daß es sie schauerte, wenn sie davon sprach.

      »Ich begehe kein Unrecht«, dachte Arthur, »wenn ich mir diesen Mr. Tite Barnacle ansehe.«

      Dieser Gedanke war nicht sobald in ihm aufgestiegen, als sie ihn auch schon wieder abschnitt. »Ach!« sagte Klein-Dorrit, den Kopf schüttelnd mit der milden Verzweiflung eines langen traurigen Lebens. »Schon viele Leute hatten die Absicht, meinen armen Vater aus dem Gefängnis zu befreien, aber Sie wissen nicht, wie hoffnungslos dieser Wunsch ist.«

      Sie verlor in diesem Augenblick ihre Schüchternheit, da sie ihn von dem gesunkenen Wrack wegriß, das er wieder emporzuraffen sich träumen ließ, und sah ihn mit Augen an, die ihn in Verbindung mit ihrem geduldigen Gesicht, ihrer schwächlichen Gestalt, ihrem dürftigen Gewand und dem Wind und Regen sicher nicht von seinem Vorsatz, ihr zu helfen, abbrachten.

      »Selbst wenn es möglich wäre«, sagte sie, »und es ist jetzt nie mehr möglich – wo sollte Vater wohnen oder wie könnte er leben? Ich habe oft daran gedacht, wenn ein solcher Glücksfall einträte, es würde ihm nichts weniger als nützlich sein. Die Leute hier draußen würden nicht so gut von ihm denken, wie sie es dort tun. Er würde hier nicht so freundlich behandelt werden wie dort. Er wäre nicht so geschaffen für das Leben außerhalb des Gefängnisses, wie für das innerhalb der vier Mauern.«

      Hier konnte sie zum ersten Male nicht hindern, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten, und die kleinen zarten Hände, die er beobachtet, als sie so geschäftig waren, zitterten, während sie sich falteten.

      »Es wäre ein neuer Kummer für ihn, wenn er wüßte, daß ich etwas Geld erwerbe und daß Fanny etwas Geld erwirbt. Er ist so besorgt um uns, da er sich hilflos eingeschlossen fühlt. Ein guter, guter Vater!«

      Er ließ diesen kleinen Gefühlsstrom sich etwas verlaufen, ehe er sprach. Es war bald vorüber. Sie war nicht gewöhnt, an sich zu denken oder irgend jemanden mit ihren Gemütsbewegungen zu belästigen. Er hatte sich nur die Masse der Dächer und Kamine der City betrachtet, zwischen denen sich der Rauch langsam hinzog, und den Wald von Masten auf dem Strom und die Wildnis von Türmen am Ufer, die sich bei dem Sturm und Nebel nur in unklaren Umrissen vor seinen


Скачать книгу