Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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"Kein Seemann? Ich glaubte dies aus Ihrem sonnverbrannten Gesicht schließen zu dürfen. Ist es Ihnen auch Ernst, Sir?"

      "Ich versichere Sie, daß es mir Ernst ist mit dem, was ich sage, und bitte Sie, sich völlig davon überzeugt zu halten."

      "Ich weiß sehr wenig von der Welt, Sir", versetzte der andere, der eine schwache und zitternde Stimme hatte. "Ich schreite über die Erde wie der Schatten über die Sonnenuhr. Es lohnt sich nicht, mich zu hintergehen: das Gelingen wäre eine gar zu leichte – gar zu nutzlose Sache. Das junge Mädchen, das Sie hineingehen sahen, ist meines Bruders Tochter. Mein Bruder heißt William Dorrit; ich Frederik. Sie sagten, Sie hätten sie bei Ihrer Mutter gesehen (ich weiß, Ihre Mutter ist sehr gütig gegen sie). Sie hätten ein Interesse für sie gefaßt und wünschten zu wissen, was sie hier tut. Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst."

      Er ging weiter, und Arthur begleitete ihn.

      "Mein Bruder", sagte der alte Mann, einen Augenblick stehenbleibend und sich umsehend, "mein Bruder ist seit vielen Jahren hier, und manches, was draußen selbst mit uns vorgeht, wird ihm aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, verheimlicht. Haben Sie die Güte, nichts davon zu sagen, daß meine Nichte in der Stadt näht. Haben Sie überhaupt die Güte, nicht mehr zu sagen als wir selbst. Wenn Sie sich innerhalb unserer Schranken bewegen, werden Sie niemanden verletzen. Nun, kommen Sie und sehen Sie selbst."

      Arthur folgte ihm durch einen engen Gang, an dessen Ende ein Schlüssel umgedreht wurde, worauf sich eine schwere Tür von innen öffnete. Sie traten in ein Pförtnerstübchen oder Vorzimmer und gelangten durch dieses und ein zweites Gittertor in das Gefängnis. Der alte Mann, der bislang immer vor sich hingegrübelt, drehte sich in seiner langsamen, steifen und demütigen Manier um, als sie zu dem diensttuenden Schließer kamen und er diesem seinen Begleiter vorstellen wollte. Der Schließer nickte, und der Begleiter trat ein, ohne daß man ihn fragte, zu wem er wolle.

      Die Nacht war dunkel; und die Gefängnislampen im Hof und die Lichter, die aus den Zimmern der Gefangenen durch alte Vorhänge und Jalousien einen schwachen Schimmer verbreiteten, schienen diese ganze Welt nicht heller zu machen. Einige von den Gefangenen spazierten im Hofe umher, der größere Teil befand sich jedoch bereits

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      Der Klarinettspieler auf dem Wege.

      auf den Zimmern. Der alte Mann, der den Weg nach der rechten Seite des Hofes einschlug, trat in den dritten oder vierten Torweg und begann die Treppen hinaufzusteigen. »Es ist hier ziemlich finster, Sir, aber Sie werden nichts im Wege finden.«

      Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er eine Tür im zweiten Stockwerk öffnete. Er hatte kaum die Klinke aufgedrückt, als der Fremde Dorrit sah und den Grund wußte, weshalb sie so großen Vorrat aufhäufte, wenn sie allein speiste.

      Sie hatte die Mahlzeit mit nach Hause gebracht, die sie selbst hätte essen sollen, und wärmte sie bereits auf einem Rost über dem Feuer für ihren Vater, der einen alten grauen Rock und eine schwarze Mütze trug. Er wartete auf sein Abendessen am Tische. Ein reinliches Tischtuch war vor ihm ausgebreitet; darauf lagen und standen Gabel, Messer und Löffel, Salzbüchse, Pfefferbüchse, Glas und ein zinnerner Bierkrug. Auch fehlten solche Zutaten wie eine besondere kleine Büchse mit Cayennepfeffer und für einen Penny Mixed Pickles in einem Schälchen nicht.

      Sie erschrak und wurde bald rot, bald blaß. Der Fremde forderte sie mehr durch seine Blicke als durch seine leichte Handbewegung auf, sich zu beruhigen und ihm zu vertrauen.

      »Ich fand diesen Herrn«, sagte der Onkel, »Mr. Clennam, den Sohn von Amys Gönnerin – an dem äußeren Tor, in der Absicht begriffen, im Vorübergehen seinen Besuch abzustatten, unschlüssig jedoch, ob er hereingehen sollte oder nicht. Dies ist mein Bruder William, Sir.«

      »Ich hoffe«, sagte Arthur, ungewiß, was er sagen sollte, »daß meine Achtung für Ihre Tochter meinen Wunsch, Sie kennenzulernen, erklären und rechtfertigen wird.«

      »Mr. Clennam«, versetzte der andere, indem er aufstand, seine Mütze abnahm und sie in der Hand hielt, bereit sie wieder aufzusetzen, »Sie erweisen mir eine Ehre. Seien Sie willkommen, Sir.« Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. »Frederik, einen Stuhl. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Clennam.«

      Er setzte seine schwarze Kappe auf, wie er sie abgenommen, und ließ sich wieder am Tische nieder. Es lag etwas eigentümlich Wohlwollendes und Herablassendes in seinem Wesen. Das waren die Zeremonien, mit denen er die Mitgefangenen gewöhnlich empfing.

      »Seien Sie willkommen im Marschallgefängnis, Sir. Ich habe manchen Gentleman in diesen Mauern bewillkommt. Vielleicht wissen Sie bereits – meine Tochter Amy hat es Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt –, daß ich der Vater dieses Hauses bin.«

      »Ich – ja allerdings habe ich das gehört«, sagte Arthur, keck diese Behauptung aussprechend.

      »Sie wissen ohne Zweifel ferner, daß meine Tochter Amy hier geboren ist. Ein gutes Mädchen, Sir, ein liebes Mädchen, und seit lange ein Trost und eine Stütze für mich. Amy, mein liebes Kind, setze das Essen auf; Mr. Clennam wird die einfachen Gewohnheiten,

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      Die Entdeckung des Geheimnisses von Klein-Dorrit.

      auf die wir hier angewiesen sind, entschuldigen. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir die Ehre geben wollen, Sir, –«

      »Ich danke«, erwiderte Arthur. »Nicht einen Bissen.«

      Er war lauter Staunen über das Benehmen des Mannes, der gar nicht daran zu denken schien, daß seine Tochter irgendeine Zurückhaltung über die Geschichte ihrer Familie beobachten könnte.

      Sie füllte sein Glas, stellte alle die Kleinigkeiten auf den Tisch vor ihn und setzte sich neben den Vater, während dieser aß. Offenbar nach ihrer allnächtlichen Gewohnheit legte sie ein Stück Brot vor sich und berührte sein Glas mit ihren Lippen. Der Blick, mit dem sie halb bewundernd und stolz, halb verlegen, aber doch lauter Liebe und Hingebung, ihren Vater ansah, drang ihm tief ins Herz.

      Der Vater des Marschallgefängnisses war gegen seinen Bruder, als einen liebreichen und wohlmeinenden Mann, einen stillen Charakter, der es zu keiner Auszeichnung gebracht, sehr herablassend. »Frederik«, sagte er, »du und Amy essen heute zu Hause zu Nacht, nicht wahr? Wo ist Fanny, Frederik?«

      »Sie geht mit Tip spazieren.«

      »Tip – müssen Sie wissen – ist mein Sohn, Mr. Clennam. Er war etwas wild und schwer in Ordnung zu halten, aber sein Eintritt in die Welt war auch ziemlich« – er zuckte die Schulter mit einem leichten Seufzer und blickte im Zimmer umher – »ziemlich seltsam. Ihr erster Besuch hier, Sir?«

      »Mein erster.«

      »Sie könnten auch seit Ihrer Knabenzeit kaum hier gewesen sein, ohne daß ich es erfahren. Es geschieht höchst selten, daß jemand – von Bedeutung, von irgendwelcher Bedeutung – hierherkommt, ohne daß er mir vorgestellt würde."

      »Vierzig bis fünfzig wurden oft an einem Tage meinem Bruder vorgestellt«, sagte Frederik, plötzlich stolz aufleuchtend.

      »Jas, sagte der Vater des Marschallgefängnisses bestätigend. »Es waren ihrer sogar noch mehr. An einem schönen Sonntag zur Zeit der Sitzungen der Gerichtshöfe ist es ein wahrer Empfang – ja ein Empfang. Amy, liebes Kind, ich habe mir den halben Tag den Kopf zerbrochen über den Namen des Gentleman von Camberwell, den mir letzte Christwoche der angenehme Kohlenhändler, der auf sechs Monate wieder zurückgeschickt wurde, vorstellte.«

      »Ich erinnere mich seines Namens nicht, Vater.«

      »Frederik, erinnerst du dich seiner?«

      Frederik bezweifelte, daß er ihn je gehört. Niemand konnte aber bezweifeln, daß Frederik die letzte Person auf Erden sei, an die man eine solche Frage richten könnte, mit irgendeiner Aussicht auf Auskunft.

      »Ich meine«, sagte


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