Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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Schließer war wirklich stolz auf ihn. Er gedachte seiner in rühmenden Worten bei jedem neuen Ankömmling, sobald er den Rücken kehrte. »Haben Sie ihn bemerkt?« sagte er dann, »den, der gerade mein Stübchen verließ?«

      Der neue Ankömmling antwortete mit »Ja.«

      »Wie ein echter Gentleman erzogen, wenn's je einen solchen gab; keine Kosten bei seinem Unterricht gespart; kam einst in des Marschalls Haus, um ein neues Piano zu probieren. Er spielte es wie aus einem Guß – herrlich! Und was Sprachen betrifft – er spricht alle. Wir hatten mal einen Franzosen hier; meiner Ansicht nach wußte er mehr Französisch als dieser. Wir hatten einmal einen Italiener hier, und er schloß, ehe eine halbe Minute vorbei war, den Mund. Sie finden wohl interessante Charaktere auch hinter andern Schlössern, ich will das nicht bestreiten; aber wenn Sie die Krone alles Wissens in solchen Dingen wie die erwähnten haben wollen, so müssen Sie nach dem Marschallgefängnis kommen.«

      Als sein jüngstes Kind acht Jahre alt war, ging seine Frau, die schon lange an der Schwindsucht litt – eine Folge ihrer eigenen Schwäche, nicht daß ihr der Aufenthaltsort peinlicher gewesen als ihrem Gatten – zu Besuch zu einer armen Freundin und ehemaligen Amme auf dem Lande und starb dort. Er schloß sich nach diesem Schlage vierzehn Tage lang ein, und der Schreiber eines Anwalts, der bei dem Gerichtshof in Bankerottsachen zu tun hatte, setzte ein Beileidsschreiben an ihn auf, das wie ein Pachtkontrakt aussah und von allen Gefangenen unterzeichnet wurde. Als er sich endlich wieder zeigte, war er grauer geworden (er hatte frühzeitig grau zu werden begonnen); und der Schließer bemerkte, daß er seine Hände wieder häufiger zu seinen zitternden Lippen führte, wie er zu tun pflegte, als er zuerst in das Gefängnis eingeliefert wurde. Aber er erholte sich während der nächsten ein bis zwei Monate wieder so ziemlich, und die Kinder spielten inzwischen so regelmäßig wie sonst auf dem Hofe, nur mit dem Unterschied, daß sie schwarze Kleider trugen.

      Dann begann Mrs. Bangham, das langjährige, beliebte Verbindungsglied mit der Außenwelt, schwach zu werden; man fand sie öfter denn sonst in ohnmachtähnlichem Zustand auf dem Boden, den Korb zum Einkaufen umgeworfen und das Geld, das sie für ihre Kunden wechseln lassen sollte, um neun Pence verkürzt. Sein Sohn begann Mrs. Bangham zu ersetzen und besorgte die Kommissionen mit großer Gewandtheit: im Gefängnis war er ganz Gefangener und auf den Straßen ganz Straßenjunge.

      Die Zeit ging ihren Gang, und der Schließer wurde immer schwächer. Seine Brust schwoll, seine Beine wurden schwach, und der Atem wurde kürzer. Der abgenutzte hölzerne Stuhl war nicht mehr sein Thron, das machte ihm Kummer. Er saß in einem Armstuhl mit einem Kissen und keuchte hier und da ganze Minuten lang so stark, daß er seinem Dienst nicht mehr obliegen konnte. Hatte er einen solchen heftigen Anfall, so besorgte der Schuldner das Geschäft für ihn.

      »Sie und ich«, sagte der Schließer an einem schneeigen Wintertag, als sein gut erwärmtes Stübchen voll von Gesellschaft war, »wir sind die ältesten Bewohner des Gefängnisses. Ich bin kaum sieben Jahre länger hier als Sie. Es wird nicht mehr lange mit mir dauern. Wenn ich das Schloß für immer schließe, so sind Sie der Vater des Marschallgefängnisses.« Der Schließer verließ am folgenden Tage das Schloß dieser Welt. Man erinnerte sich seiner Worte, die von Mund zu Mund gingen, und eine Tradition vererbte sich von Generation zu Generation – eine Generation des Marschallgefängnisses dauert ungefähr drei Monate –, daß der alte abgeschabte Schuldner mit dem sanften Wesen und dem weißen Haar der Vater des Marschallgefängnisses sei.

      Und er wurde stolz auf diesen Titel. Wenn ein Betrüger aufgestanden wäre und ihn für sich beansprucht, würde er bittere Tränen über diesen Angriff auf seine Rechte vergossen haben. Man sah ihn sogar geneigt, die Zahl der Jahre, die er bereits an diesem Orte verbracht, zu übertreiben; man wußte allgemein, daß man einige von seiner Rechnung abziehen mußte. Er sei eitel, sagten die wechselnden Schuldnergenerationen.

      Alle neuen Ankömmlinge wurden ihm vorgestellt. Er war sehr genau in Vollziehung dieser Zeremonie. Witzige Köpfe hätten gerne die Feierlichkeit der Vorstellung durch übertriebenes Gepränge und pomphafte Umständlichkeit ins Lächerliche gezogen, aber an seinem würdevollen Ernst scheiterte jeder derartige Versuch. Er empfing sie in seinem dürftigen Zimmer (eine Vorstellung im Hofe mißfiel ihm wegen der Formlosigkeit und Alltäglichkeit) mit herablassendem Wohlwollen. Er heiße sie willkommen im Marschallgefängnis, sagte er zu ihnen. Ja, er war der Vater des Hauses. So nannte ihn die freundliche Welt, und er war wirklich der »Vater«, wenn zwanzigjähriger Aufenthalt ihm ein Recht auf diesen Titel gab. Anfangs war er wohl verlegen darüber; aber es war ja sehr gute Gesellschaft unter diesem Gemisch von Menschen – man kann sich denken welch Gemisch –, und es herrschte ein sehr guter Ton.

      Es war nicht ungewöhnlich, daß bei Nacht Briefe vor seine Tür gelegt wurden, die eine halbe Krone, zwei halbe Kronen und dann und wann in langen Zwischenräumen einen halben Sovereign für den Vater des Marschallgefängnisses enthielten, »mit den Grüßen eines Abschied nehmenden Mitgefangenen.« Er empfing diese Gaben wie einen Tribut, den die Bewunderung einem öffentlichen Charakter darbringt. Bisweilen nahmen diese Briefsteller scherzhafte Namen an wie: Backstein, Blasebalg, Alte Stachelbeere, Weitweg, Aufpasser, Fegewisch, Schneidab, Hundefütterer. Aber er nahm den Scherz übel auf und fühlte sich immer etwas gekränkt dadurch.

      Diese Art von Korrespondenz trug nach und nach die Zeichen der Erschöpfung an sich und schien von seiten der Korrespondenten eine Anstrengung zu erfordern, die manchen bei der Eile, in der er das Gefängnis verließ, genieren mochte, und er begann zuletzt die Sache so einzurichten, daß er die Gefangenen von einem gewissen Rang am Tor erwartete, um von ihnen Abschied zu nehmen. Der Betreffende blieb dann, nachdem er ihm die Hand geschüttelt und weggegangen, plötzlich stehen, wickelte etwas in ein Stück Papier, kehrte zurück und rief: »Halt!« Der Schuldner sah sich erstaunt um. »Rufen Sie mich?« sagte er mit einem Lächeln.

      Währenddem war der andere zu ihm herangetreten. In väterlichem Tone fügte er dann hinzu: »Was haben Sie vergessen? was kann ich für Sie tun?«

      »Ich vergaß dies für den Vater des Marschallgefängnisses zurückzulassen«, antwortete gewöhnlich der Mitgefangene.

      »Mein guter Herr«, erwiderte er darauf, »er ist Ihnen sehr verbunden.« Aber die sonst unschlüssige Hand blieb dann während eines zwei- bis dreimaligen Ganges durch den Hof in der Tasche, in die er das Geld gesteckt, damit dieser Vorgang für die Korporation seiner übrigen Mitgefangenen nicht gar so auffallend werde.

      Eines Nachmittags hatte er einer großen Anzahl von Gefangenen, die so glücklich waren entlassen zu werden, das Geleit gegeben, als er bei der Zurückkehr einem von der armen Seite begegnete, der wegen einer kleinen Summe in der Woche zuvor eingeliefert worden war, nun aber seine Sache geordnet hatte und das Gefängnis soeben verlassen wollte. Der Mann war ein gewöhnlicher Gipser und trug sein Arbeitskleid; er hatte seine Frau bei sich und ein Bündel und schien sehr heiter zu sein.

      »Gott segne Sie!« sagte er im Vorbeigehen.

      »Das gleiche wünsche ich Euch«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses freundlich.

      Sie waren schon ziemlich weit auseinander, da jeder seines Weges ging, als der Gipser ausrief: »Noch etwas! – Sir!« und zu ihm zurückkam.

      »Es ist nicht viel«, sagte der Gipser, indem er einen kleinen Stoß Kupferdreier in seine Hände legte, »aber es ist gut gemeint.«

      Dem Vater des Marschallgefängnisses war bis jetzt noch nie ein Tribut in Kupfer dargebracht worden. Seine Kinder freilich hatten schon manches Kupfer empfangen, und es war mit seiner Zustimmung in den allgemeinen Beutel geflossen, woraus Speise gekauft wurde, die er gegessen, und Getränk, das er getrunken; daß jedoch mit Gips bespritzter Barchent ihm in eigner Person Dreier in die Hand drückte, das war neu für ihn.

      »Wie könnt Ihr es wagen!« sagte er zu dem Mann und brach in Tränen aus.

      Der Gipser führte ihn nach der Mauer, daß man sein Gesicht nicht sehen konnte, und die Art und Weise, wie er dies tat, war so zart, und der Mann war so von Reue durchdrungen, bat so aufrichtig um Verzeihung, daß er ihm keine geringere Anerkennung zuteil werden lassen konnte als: »Ich weiß, Ihr meintet es gut. Sprecht nicht weiter davon.«

      »Gott


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