Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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allein zugesprochen, und jene hätten keine größeren gesetzlichen Ansprüche darauf als Sie«, antwortete der Sachverständige.

      »Warten Sie einen Augenblick«, sagte dann der Schließer. »Gesetzt, sie wäre ein gutherziges Mädchen, und sie wüßten sie zu beschwatzen, welches Mittel gibt Ihr Gesetz in solchem Falle an die Hand, um dies durch Klauseln zu verhindern?«

      Der tiefsinnige Charakter; an den sich der Schließer deshalb wandte, war außerstande, einen Punkt des Gesetzes herauszufinden, um einen solchen Knoten zu verklausulieren. Und der Schließer dachte sein ganzes Leben darüber nach und starb ohne Testament.

      Aber dies geschah lange nachher, als seine Pate bereits sechzehn Jahre alt geworden war. Die erste Hälfte dieses Zeitraums ihres Lebens war kaum verflossen, als ihr mitleidiger und teilnahmvoller Blick ihren Vater Witwer werden sah. Von dieser Zeit verkörperte sich der Schutz, den ihre fragenden Augen ausgesprochen, zur Tat, und das Kind des Marschallgefängnisses trat in ein neues Verhältnis zu seinem Vater.

      Anfangs konnte ein so kleines Kind nichts tun, als den angenehmen Platz an dem hohen Kamingitter aufgeben, bei ihm sitzen und auf seine Wünsche lauschen. Aber dies machte ihm die Kleine so unentbehrlich, daß er ganz an sie gewöhnt wurde und sie schwer vermißte, wenn sie nicht um ihn war. Durch diese kleine Tür trat sie aus der Kindheit in die sorgenbeladene Welt.

      Was ihr mitleidiger Blick in jenen frühen Tagen in ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder, in dem Gefängnis erblickte; wieviel oder wie wenig von der traurigen Wahrheit Gott ihrem Blick zu enthüllen für gut gefunden, bleibt uns wie manches andere Geheimnis verborgen. Genug, daß sie den begeisterten Drang in sich fühlte, etwas zu sein, was die übrigen nicht waren, und dieses Etwas – anders und fleißig – um der übrigen willen. Begeistert? Ja. Sollen wir denn allein von der Begeisterung eines Dichters oder Priesters sprechen und nicht auch von der Begeisterung eines Herzens, das durch Liebe und Selbstaufopferung zu der niedrigsten Arbeit in der niedrigsten Lebenssphäre gedrängt wird?

      Ohne menschlichen Freund, der sie unterstützt oder sich nur um sie bekümmert, als den einen, mit dem sie das Schicksal so seltsam zusammengewürfelt; ohne alle Kenntnis des alltäglichen Lebens und der Gewohnheiten der Glieder der freien Gemeinde, die nicht in Gefängnissen eingeschlossen ist: geboren und erzogen in sozialen Verhältnissen, für die sich selbst in den falschesten Verhältnissen der Welt außerhalb der Gefängnismauern kein ebenbürtiger Vergleich findet; von Kindheit an aus einer Quelle trinkend, deren Wasser eigentümlich gefärbt war und einen eigentümlich ungesunden und unnatürlichen Geschmack hatte, begann das Kind des Marschallgefängnisses seinen Lebenslauf.

      Es gilt gleich, durch welche Irrtümer und Entmutigungen, durch welche Verspottungen ihrer kindischen und kleinen Figur (die, wenn auch nicht bös gemeint, doch bitter empfunden wurden), durch welches demütigende Bewußtsein ihrer Dürftigkeit und Schwäche, selbst im Heben und Tragen, durch wieviel Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, wie viele stille Tränen sie sich durchgerungen, bis man sie als ein nützliches, ja unentbehrliches Wesen anerkannte. Diese Zeit konnte nicht ausbleiben. Sie trat bald, mit Ausnahme der Erstgeburt, in alle Rechte des Ältesten unter den drei Geschwistern ein; sie wurde das Haupt der gefallenen Familie und trug in ihrem Herzen die Sorgen und die Schmach derselben.

      Als sie dreizehn Jahre alt war, konnte sie lesen und Rechnung führen – das heißt, sie konnte in Worten und Zeichen sagen, wieviel ihre nötigsten Bedürfnisse kosten würden und wieviel ihnen zur Anschaffung derselben mangelte. Sie war öfter einige Wochen lang verstohlenerweise in eine Abendschule in der Stadt gegangen und wußte ihre Schwester und ihren Bruder während drei oder vier Jahren zeitweise in eine Tageschule zu bringen. Zu Hause war für keines irgendwelcher Unterricht; aber sie sah es wohl ein – niemand besser als sie –, daß ein Mann, der so gebrochen, um Vater des Marschallgefängnisses zu sein, für seine Kinder kein Vater im vollen Sinn des Wortes sein könne.

      Zu diesen schwachen Mitteln der Ausbildung fügte sie noch ein anderes aus eigener Findigkeit. Unter der bunten Masse von Schuldgefangenen erschien einst ein Tanzmeister. Ihre Schwester hatte ein großes Verlangen, die Kunst dieses Mannes zu lernen, und schien auch Talent dafür zu besitzen. Dreizehn Jahre alt, trat das Kind des Marschallgefängnisses mit einem Beutelchen in der Hand vor den Tanzmeister und brachte ihre bescheidene Bitte vor.

      »Erlauben Sie, mein Herr, ich bin hier geboren.«

      »Oh! Sie sind das junge Mädchen, wirklich?« sagte der Tanzmeister, ihre kleine Gestalt und ihr zu ihm aufsehendes Gesicht betrachtend.

      »Ja, Sir.«

      »Und was kann ich für Sie tun?« sagte der Tanzmeister.

      »Nichts für mich, Sir, ich danke«, antwortete sie, die Schnüre des kleinen Beutels verlegen aufziehend; »aber wenn Sie während Ihres Hierseins so freundlich sein wollten, meiner Schwester billigen Unterricht –«

      »Mein Kind, ich werde ihr umsonst Unterricht geben«, sagte der Tanzmeister, den Beutel zurückweisend. Er war ein so gutmütiger Tanzmeister, wie je einer in das Schuldgefängnis getanzt war, und er hielt sein Wort. Die Schwester war eine so gelehrige Schülerin, und der Tanzmeister hatte so überflüssige viele Zeit für sie (denn es dauerte zehn Wochen, bis er sich mit seinen Gläubigern ins klare gesetzt, die Kommissare bestellt und von der Sachlage unterrichtet und zu seiner Berufstätigkeit zurückkehren konnte), daß das Mädchen ausgezeichnete Fortschritte machte. Der Tanzmeister war wirklich so stolz darauf und so begierig, die Erfolge seiner Kunst, ehe er das Gefängnis verließ, vor einigen auserlesenen Freunden unter den Mitgefangenen zu produzieren, daß an einem schönen Morgen um sechs Uhr ein Menuett à la cour im Hofe getanzt wurde – die Räume des Gefängnisses waren für einen solchen Zweck zu beschränkt –, und dabei setzte die Schülerin die Füße so angemessen und machte die Schritte so gewissenhaft, daß der Tanzmeister, der die Stoßgeige dazu spielte, ganz begeistert war.

      Der Erfolg dieses Anfangs, der den Tanzmeister veranlaßte, seinen Unterricht nach seiner Freilassung fortzusetzen, ermutigte das arme Mädchen, weitere Versuche zu machen. Sie wartete und wartete monatelang, ob nicht eine Näherin in das Gefängnis eingeliefert würde. Endlich nach langer Zeit erschien eine Putzhändlerin, und an diese wandte sie sich in eignem Interesse.

      »Ich bitte um Entschuldigung, Ma'am«, sagte sie und sah sich ängstlich an der Tür der Putzhändlerin um, die sie in Tränen und im Bette fand; »aber ich wurde hier geboren.«

      Jedermann schien, sobald er in das Gefängnis kam, von ihr zu hören; denn die Putzhändlerin saß im Bett auf und sagte, die Augen trocknend, ganz wie der Tanzmeister gesagt:

      »Oh! Sie sind das Kind, wirklich?«

      »Ja, Ma'am!«

      »Ich bedaure, ich habe nichts, womit ich Ihnen dienen könnte«, sagte die Putzhändlerin mit Kopfschütteln.

      »Das will ich auch gar nicht, Ma'am. Wenn es Ihnen angenehm wäre, wünschte ich nähen zu lernen.«

      »Wie können Sie das wünschen«, versetzte die Putzhändlerin, »da Sie doch an mir ein Beispiel haben? Es hat mir nicht sonderlich viel Glück gebracht.«

      »Nichts – was es auch sei – scheint denen, die hierher kommen, Glück gebracht zu haben«, versetzte sie in ihrer Einfalt; »aber ich möchte doch nähen lernen.«

      »Ich fürchte, Sie sind zu schwach«, warf die Putzhändlerin ein.

      »Ich halte mich nicht für zu schwach, Ma'am.«

      »Und dann sind Sie auch so sehr klein«, erwiderte die Putzhändlerin.

      »Ja, ich bin leider sehr klein«, entgegnete das Kind des Marschallgefängnisses und begann über diesen unglücklichen Mangel ihres Körpers, der ihr so oft hindernd in den Weg trat, zu weinen. Die Putzhändlerin – die nicht grämlich und hartherzig war, sondern nur in letzter Zeit nicht hatte bezahlen können – war gerührt, nahm sich ihrer freundlich an und fand in ihr die geduldigste und fleißigste Schülerin, die sie im Lauf der Zeit zu einer geschickten Arbeiterin machte.

      Im weiteren Verlauf der Zeit, und zwar in derselben Zeit entfaltete auch der Vater des Marschallgefängnisses eine neue Blüte


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