Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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Vater des Marschallgefängnisses.

      Bei solchen echt britischen Momenten taten die Schmuggler, als ob sie nach den festen Zellen oder nach dem dunklen Gang gingen, während dieser jemand sich auch den Anschein gab, als ob er irgend etwas täte, und zuletzt in der Tat wieder hinausging, sobald er sein Nichts getan – ein Beispiel im kleinen von der Verwaltung der meisten öffentlichen Angelegenheiten unserer kleinen, ganz kleinen Insel.

      Lange vor jenem Tag, an dem die Sonne über Marseille glühte und unsere Erzählung ihren Anfang nahm, wurde in das Marschallgefängnis ein Schuldner eingeliefert, mit dem diese Erzählung in einiger Beziehung steht.

      Er war zu jener Zeit ein sehr liebenswürdiger, aber sehr hilfloser Mann von mittlerem Alter, der sogleich wieder hätte von dannen gehen können. Notwendigerweise hätte das geschehen müssen; denn das Marschallgefängnis schloß sich nie hinter einem Schuldner, der nicht wirklich ein solcher war. Er brachte einen Mantelsack mit sich, den er auszupacken für nicht der Mühe wert hielt; er war so vollkommen schuldlos wie alle übrigen, und der Schließer an der Tür sagte, daß er sogleich wieder hätte gehen können.

      Es war ein scheuer und zurückhaltender Mann; hübsch, obgleich etwas weiblicher Typus; mit einer sanften Stimme, gewelltem Haar und unschlüssigen Händen – zu jener Zeit mit Ringen an den Fingern –, die er hundertmal während der ersten halben Stunde seiner Bekanntschaft mit dem Kerker ängstlich an seine zitternden Lippen führte. Am meisten besorgt war er um seine Frau.

      »Glauben Sie, Sir«, fragte er den Schließer, »daß sie sehr unangenehm berührt sein wird, wenn sie morgen früh an das Tor kommt?«

      Der Schließer teilte ihm als Resultat seiner Erfahrung mit, daß einige es seien, andere wiederum nicht. Im allgemeinen häufiger nein, als ja. »Von welcher Konstitution ist sie?« fragte er philosophisch, »darauf kommt alles an, wie Sie wissen.«

      »Sie ist sehr zart und ganz unerfahren.«

      »Das ist schlimm«, sagte der Schließer.

      »Sie ist so wenig gewöhnt, allein auszugehen«, sagte der Schuldner, »daß ich nicht weiß, wie sie hierherkommen wird, wenn sie zu Fuß geht.«

      »Vielleicht nimmt sie einen Mietwagen«, versetzte der Schließer.

      »Vielleicht.« Die unschlüssigen Finger wanderten nach den zitternden Lippen. »Ich hoffe, sie wird es tun. Sie denkt aber vielleicht nicht daran.«

      »Oder vielleicht«, sagte der Schließer, seine Vermutungen von der Höhe seines abgenutzten hölzernen Stuhles austeilend, wie wenn er es mit einem Kinde zu tun hätte, für dessen Schwäche er Mitleid fühlte, »vielleicht wird sie ihren Bruder oder ihre Schwester veranlassen, mit ihr zu gehen.«

      »Sie hat weder Bruder noch Schwester.«

      »Nichte, Neffe, Vetter, Diener, Kammerjungfer, Gemüsehändlerin. Eins oder das andere von diesen«, sagte der Schließer, im voraus der Zurückweisung aller dieser Vermutungen vorbeugend.

      »Ich fürchte – ich hoffe, es ist nicht gegen die Vorschriften –, daß sie die Kinder mit sich bringt.«

      »Die Kinder?« fragte der Schließer. »Und die Vorschriften? Beruhigen Sie sich, wir haben einen besonderen Spielplatz für Kinder. Kinder? Wir tummeln uns mit ihnen. Wie viele haben Sie?«

      »Zwei«, sagte der Schuldner, indem er seine unschlüssige Hand wieder zu den Lippen führte und in das Gefängnis trat.

      Der Schließer folgte ihm mit den Blicken. »Und Sie eins«, bemerkte er bei sich selbst, »das macht drei. Und Ihre Frau eins, ich will eine Krone wetten, das macht vier. Und eines in Aussicht, ich wollte eine halbe Krone wetten, das wird fünf machen. Und ich möchte sieben Schillinge und sechs Pence wetten, daß ich weiß, wer das Hilfloseste von beiden ist, das ungeborene Kind oder Sie!«

      Er hatte in allen Einzelheiten recht. Sie kam am folgenden Tage mit einem kleinen dreijährigen Knaben und einem zweijährigen Mädchen, und er sah wie neu gekräftigt und gestärkt aus.

      »Haben Sie jetzt ein Zimmer oder noch nicht?« fragte der Schließer den Schuldner nach ein oder zwei Wochen.

      »Ja, ich habe ein sehr gutes Zimmer bekommen.«

      »Haben Sie schon einige Stücke zum Ausmöblieren?« fragte der Schließer weiter.

      »Ich erwarte einige nötige Möbel, die heute nachmittag durch einen Lastträger hier abgegeben werden sollen.«

      »Missis und die Kleinen werden Ihnen Gesellschaft leisten?« fuhr der Schließer fort.

      »Ja, es schien uns besser, uns nicht zu trennen, und wär' es auch nur für ein paar Wochen.«

      »Nur für ein paar Wochen, natürlich«, versetzte der Schließer. Und er folgte ihm wieder mit den Blicken und nickte siebenmal mit dem Kopf, als er bereits weggegangen war.

      Die Vermögensangelegenheiten dieses Schuldners waren durch die Beteiligung an einem Geschäft, von dem er nicht mehr wußte, als daß er Geld hineingeschossen, durch legale Wechselübertragungen und Saldierungen, Übergabe hier und Übergabe dort, Verdacht ungesetzlicher Bevorzugung von Gläubigern in dieser Richtung und geheimnisvollen Wegschaffens des Eigentums in jener in Verwirrung geraten. Da aber niemand auf diesem Erdenrund weniger imstande war, irgendein Belastungsargument in dieser wirren Masse zu erklären als der Schuldner selbst, so war die Sache auch auf keine Weise zu entwirren. Ihn im Detail zu fragen und seine Antworten unter sich in Einklang zu bringen suchen, ihn mit Rechnern und geübten Praktikern, die in Insolvenz- und Bankerottränken erfahren waren, einschließen, hätte bedeutet, die Unentwirrbarkeit nur auf Zinseszinsen anzulegen. Die unschlüssigen Finger bewegten sich bei jeder solchen Gelegenheit immer unwirksamer um die zitternden Lippen, und die gewandtesten Praktiker gaben ihn als hoffnungslos auf.

      »Fort«, sagte der Schließer, »er geht nie mehr fort. Wenn ihn seine Gläubiger nicht bei den Schultern nehmen und hinausschieben.«

      Er war fünf bis sechs Monate da gewesen, als er eines Vormittags zu dem Schließer hereingestürzt kam, um ihm zu sagen, daß seine Frau krank sei.

      »Wenn jemand es wissen konnte, so war sie es«, sagte der Schließer.

      »Wir beabsichtigten«, versetzte er, »sie morgen aufs Land zu bringen. Was soll ich nun tun? O mein Gott im Himmel, was soll ich nun tun?«

      »Verlieren Sie die Zeit nicht mit Händeringen und Fingerbeißen«, antwortete der praktische Schließer, indem er ihn beim Ellbogen nahm, »sondern kommen Sie mit mir.«

      Der Schließer führte den armen Mann, der von Kopf bis zu Fuß zitterte und beständig halb atemlos »Was soll ich tun?« rief, während seine unschlüssigen Finger sich mit den Tränen seiner Wangen netzten – auf einer der gemeinschaftlichen Treppen des Gefängnisses nach einer Tür des Dachgeschosses. An diese Tür pochte der Schließer mit dem Griff seines Schlüssels.

      »Herein!« rief eine Stimme drinnen.

      Der Schließer, der öffnete, schloß ein elendes, übelriechendes kleines Zimmer auf, in dem zwei heisere, aufgedunsene Menschen mit roten Gesichtern an einem verkrüppelten Tisch Karten spielend, Pfeifen rauchend und Branntwein trinkend saßen.

      »Doktor«, sagte der Schließer, »die Frau dieses Herrn hier bedarf unverzüglich Ihres Beistandes.«

      Der Freund des Doktors stand auf der Höhe von Heiserkeit, Aufgedunsenheit, Gesichtsröte, Skat, Tabak, Schmutz und Branntwein; der Doktor auf dem noch höheren Gipfel – er war heiserer, aufgedunsener, röter, skatversessener, tabakiger, schmutziger und branntweiniger. Der Doktor war erstaunlich abgeschabt und trug eine zerrissene, geflickte und wasserdichte Matrosenjacke, die an den Ellbogen offen und schwach mit Knöpfen versehen war (er hatte seinerzeit als erprobter Chirurg auf einem Passagierschiff Dienste getan), die schmutzigsten weißen Hosen, die der Mensch sich denken kann, Teppichpantoffel. »Kindbett«, sagte der Doktor, »dazu bin ich der Mann!«

      Mit diesen Worten nahm der Doktor einen Kamm, der auf dem Kamin lag, und strich sein Haar in die Höhe –, was seine Art, sich zu


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