Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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– einverstanden waren, Klein-Dorrit als eine Sache der Gewohnheit zu betrachten,

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      Klein-Dorrit im Hause Mrs. Clennams

      so hatte sie nichts zu tun, als sich darein zu fügen und desgleichen zu tun. Wären die beiden Gescheiten miteinander einverstanden gewesen, Klein-Dorrit bei Licht umzubringen, würde Affery, wenn man sie zum Lichthalten aufgefordert, sich ohne Zweifel keinen Augenblick geweigert haben.

      Während sie das Rebhuhn für das Krankenzimmer briet und eine Backschüssel mit Ochsenfleisch und Pudding für das Speisezimmer zubereitete, machte sie Mr. Arthur die eben erwähnten Mitteilungen, indem sie beständig den Kopf in die Tür steckte, nachdem sie ihn wieder zurückgezogen, um den Widerstand gegen die beiden Gescheiten zu verstärken. Es schien für Mrs. Flintwinch eine wirkliche Leidenschaft geworden zu sein, daß der einzige Sohn ihnen feindlich gegenübergestellt werde.

      Im Verlauf des Tages machte Arthur einen Gang durch das ganze Haus. Er fand es dunkel und düster. Die großen, seit Jahren leer dastehenden Räume schienen in finstere Totenstarre versunken, aus der sie wohl nichts wieder aufrütteln konnte. Die dürftigen und unordentlich durcheinander gewürfelten Möbel waren mehr in den Zimmern versteckt, als daß sie dieselben geziert, und im ganzen Hause war keine Spur von Farbe zu sehen. Der Anstrich, der je einmal dagewesen, war von verlorenen Sonnenstrahlen gebleicht – die dann wahrscheinlich möglichst rasch in Blumen, Schmetterlinge, Vogelgefieder, kostbare Steine und andere Dinge untertauchten. Es war nicht ein gerader Boden vom Grund des Hauses bis unter das Dach zu finden; die Decken waren so phantastisch von Rauch und Dunst umwölkt, daß alte Frauen besser das Schicksal daraus hätten prophezeien können, als aus dem Bodensatz des Tees. Die eiskalten Herde zeigten keine Spuren, daß sie je erwärmt worden, aber Haufen von Ruß waren von den Kaminen herabgefallen und flogen in kleinen, dunklen Wirbelwinden auf, wenn die Türen geöffnet wurden. In dem ehemaligen Wohnzimmer befanden sich ein paar armselige Spiegel mit häßlichen schwarzen Figuren, die schwarze Girlanden tragend auf den Rahmen einhergingen. Aber selbst diese hatten Plattköpfe und kurze Beine; ein unternehmend aussehender Cupido hatte sich um seine eigene Achse gedreht und das Unterste nach oben gekehrt; ein anderer war sogar ganz herabgefallen. Das Zimmer, das Arthur Clennams verstorbener Vater als Geschäftszimmer in der Zeit benutzt, aus der seine ersten Erinnerungen stammten, war so unverändert, daß man hätte glauben können, er bewohne es noch immer unsichtbar, wie seine sichtbare Witwe das ihrige oben, und Jeremiah stehe noch immer vermittelnd zwischen ihnen. Sein dunkles und finsteres Bild, das in sprachlosem Ernst an der Wand hing, die Augen fest auf den Sohn geheftet, wie sie auf ihn gerichtet waren, als die Lebensgeister ihn verließen, schien ihn unheimlich zu der Vollendung der Tat zu drängen, die er begonnen. Aber es blieb ihm jetzt keine Hoffnung, daß seine Mutter je nachgeben würde, und auch auf andere Weise seinen Argwohn zu beschwichtigen, hatte er für lange Zeit alle Hoffnung verloren. Drunten in den Kellern wie droben in den Schlafzimmern hatte manches, dessen er sich noch wohl erinnerte, durch Alter und Verfall ein anderes Aussehen bekommen, obgleich es an derselben Stelle wie früher stand, selbst bis auf die leeren, mit Spinngeweben überzogenen, schimmeligen Bierfäßchen und die leeren Weinflaschen herab, deren Hälse mit Schleim und Pilzen verstopft waren. Dort befand sich auch unter ungebrauchten Flaschengestellen und von schwachen Lichtstreifen aus dem darüberliegenden Hofe erhellt der feste, mit alten Lagerbüchern angefüllte Raum. Die Bücher hatten einen so dunstigen Modergeruch, als ob sie regelmäßig in der Totenstunde von einer allnächtlich spukenden Versammlung alter Buchhalter abgeschlossen würden.

      Die Backschüssel wurde um zwei Uhr auf einem zerknitterten Tischtuch an einem Ende des Speisetisches serviert, als gälte es Büßende zu bewirten. Arthur aß zugleich mit Mr. Flintwinch. Dieser teilte ihm mit, daß seine Mutter ihre frühere Gemütsruhe wiedergewonnen, und daß er nicht zu befürchten brauche, sie werde je auf das anspielen, was diesen Morgen geschehen. »Und häufen Sie nun auch ferner keine Beleidigungen auf Ihren Vater, Mr. Arthur«, fügte Jeremiah hinzu, »einmal für allemal, unterlassen Sie das! Die Sache ist damit abgemacht!«

      Mr. Flintwinch hatte bereits sein eigenes kleines Bureau in Ordnung gebracht, als gälte es der Erlangung seiner neuen Würde alle Ehre zu erweisen. Er nahm seine Beschäftigung wieder auf, als er sich mit Ochsenbraten angefüllt, allen Saft in der Backschüssel mit dem flachen Messer ausgeschöpft und aus einem auf dem Küchentisch stehenden Krug mit Halbbier sich erquickt hatte. So erfrischt, schlug er seine Hemdärmel hinauf und ging wieder an die Arbeit. Mr. Arthur, der ihn dabei beobachtete, merkte bald, daß seines Vaters Bild oder seines Vaters Grab ebenso mitteilsam sein würden wie dieser alte Mann.

      »Nun, Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch, als sie durch den Gang ging. »Du hattest Mr. Arthurs Bett noch nicht gemacht, als ich das letztemal oben war. Eile dich! Rühre dich!"

      Aber Mr. Arthur fand das Haus so öde und traurig und hatte so wenig Lust, einem zweiten unversöhnlichen Zusammentreffen der Feinde seiner Mutter (unter denen er vielleicht selbst war) zum Ärgernis diesseits und zum Verderben jenseits beizuwohnen, daß er die Absicht zu erkennen gab, nach dem Kaffeehaus, wo er sein Gepäck gelassen, zu ziehen. Da Mr. Flintwinch den Gedanken, ihn loszuwerden, freundlich aufnahm und seine Mutter, abgesehen vom Sparen, sich um die meisten häuslichen Angelegenheiten, die nicht an die vier Wände ihres eigenen Zimmers gebunden waren, wenig kümmerte, so ging die Sache ohne neue Kränkung vor sich. Man bestimmte täglich einige Stunden, die seine Mutter, Mr. Flintwinch und er dem Ordnen der Bücher und Papiere gemeinschaftlich widmen wollten; und er verließ das Haus, in das er nach so langer Zeit wieder eingekehrt, mit gebeugtem Herzen.

      Aber Klein-Dorrit?

      Die Geschäftsstunden, in die die Krankendiät der Austern und Rebhühner eine Unterbrechung brachte, während deren Mr. Clennam sich durch einen Gang erfrischte, dauerten ungefähr vierzehn Tage lang von zehn bis sechs. Bisweilen war Klein-Dorrit im Hause als Näherin beschäftigt, bisweilen nicht, bisweilen erschien sie als demütiger Besuch: das muß wohl auch bei Gelegenheit seiner Ankunft der Fall gewesen sein. Seine angeborene Neugier nahm mit jedem Tag zu, solange er sie beobachtete, sie sah oder nicht sah und über sie nachsann. Ganz nur von einem Gedanken beherrscht, wurde es ihm nach und nach zur Gewohnheit, die Möglichkeit, daß sie in irgendeiner Weise dazu in Beziehung stehe, zu erwägen. Zuletzt beschloß er, Klein-Dorrit scharf zu beobachten und sich genauere Kenntnis von ihrer Lebensgeschichte zu verschaffen.

      Vor dreißig Jahren stand, unfern von der St. Georgskirche in dem Flecken von Southwark, zur linken Hand des südlich führenden Weges das Marschallgefängnis. Es hatte dort manches Jahr zuvor gestanden und stand dort noch manches Jahr nachher; aber es ist jetzt verschwunden, und die Welt ist deshalb nicht schlimmer geworden.

      Es war eine lange Reihe von armseligen Gebäuden, in schmutzige Häuser abgeteilt, die Rücken an Rücken standen, so daß kein Zimmer nach hinten ging; rings herum zog sich ein schmaler, gepflasterter Hof, der von hohen, oben mit Spitzhaken versehenen Mauern umgeben war. An und für sich schon ein festes und streng abgesperrtes Gefängnis für Schuldner, umschloß es einen noch festeren und noch strenger abgeschlossenen Kerker für Schmuggler. Verbrecher gegen die Zoll-, Akzise- und Steuergesetze, die sich Strafen zugezogen und dann nicht imstande waren, sie zu bezahlen, wurden hinter eisenbeschlagener Tür eingesperrt. Diese verschloß ein zweites Gefängnis, das aus ein bis zwei festen Zellen und einem dunklen, ein bis anderthalb Ellen breiten Gang bestand, der den geheimnisvollen Schluß der sehr beschränkten Kegelbahn bildete, auf der die Schuldner des Marschallgefängnisses ihre Sorgen niederschoben.

      Denken wir uns dort also Menschen eingesperrt; denn die Zeit hat die festen Zellen und den dunklen Gang überlebt. In der Praxis galten die Zellen als etwas gar zu schlecht, obgleich sie in der Theorie so gut wie je waren. Das erstere mag in unseren Tagen wohl der Fall mit anderen Zellen sein, die nichts weniger als fest sind, und mit andern dunklen Gängen, die stockdunkel sind. Von hier aus verkehrten die Schmuggler gewöhnlich mit den Schuldnern (die sie mit offenen Armen aufnahmen), gewisse reglementsmäßige Momente ausgenommen, wenn jemand vom Dienst kam, um irgend etwas nachzusehen, von dem weder er noch


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