Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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fehlte, auch wenn er nie das Wort Mütterchen gehört, auch wenn er das Liebkosen der kleinen schmalen Hand nie gesehen, auch wenn er keinen Blick für die Tränen hatte, die jetzt in den farblosen Augen standen, auch wenn er den Seufzer nicht hörte, der das plumpe Lachen unterbrach. Der schmutzige Torweg, durch den der Wind und Regen fegte, mit dem Korb voll schmutziger Kartoffeln, der auf das Umwerfen oder Aufnehmen wartete, schien ihm nicht mehr die gewöhnliche Höhle zu sein, die er wirklich war, wenn er sich bei dieser Beleuchtung nach ihm umsah. Nein, nein!

      Sie hatten das Ziel ihres Weges beinahe erreicht und traten jetzt aus dem Torweg, um die letzte Strecke zurückzulegen. Maggy ließ es nicht anders zu, als daß sie am Fenster eines Krämers kurz vor ihrem Bestimmungsort hielten, damit sie ihre Gelehrsamkeit zeigen könne. Sie konnte ziemlich gut lesen und hob die fetten Zahlen in den Preislisten zum größten Teil korrekt heraus. Sie stolperte auch, ihre Fehltritte mit ziemlichem Glück aufwiegend, durch die verschiedenen menschenfreundlichen Empfehlungen wie: »Versucht unsre Mischung«, »Versucht unsre Stiefelwichse«, »Versucht unsern orangenduftenden Peko, der als der beste Blütentee jeden Vergleich aushält« und verschiedene Warnungen des Publikums gegen betrügerische Konkurrenzunternehmungen und gefälschte Artikel. Als er sah, wie Dorrits Gesicht eine freudige Röte überflog, wenn Maggy einen Treffer machte, fühlte er, daß er des Krämers Fenster gern in eine Büchersammlung verwandelt hätte, bis der Regen und Wind vorüber.

      Der Vorhof empfing sie endlich, und dort sagte er Klein-Dorrit Lebewohl. So klein sie auch immer schon aussah, in dem Augenblick, als er sie in das Pförtnerstübchen des Marschallgefängnisses eintreten sah, erschien ihm das Mütterchen, dem das aufgedunsene Kind zur Seite ging, noch kleiner.

      Die Tür des Käfigs öffnete sich, und als der kleine in der Gefangenschaft aufgewachsene Vogel zahm hineingeflattert war, sah er sie sich wieder schließen. Dann ging er.

      Das Circumlocution Office9 war (wie jedermann weiß, ohne daß man es sagt) das wichtigste Departement der Regierung. Kein öffentliches Geschäft irgendwelcher Art konnte je erledigt werden ohne die Einwilligung des Circumlocution Office. Sein Finger war in der größten öffentlichen Pastete wie in der kleinsten öffentlichen Torte. Es war ebenso unmöglich, das offenbarste Rechte zu tun, als das offenbarste Unrecht zu vereiteln – ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Circumlocution Office. Wenn eine zweite Pulververschwörung10 eine halbe Stunde vor dem Anzünden des Schwefelfadens entdeckt worden wäre, hätte niemandem die Rettung des Parlaments zugestanden, bis seitens des Circumlocution Office einige zwanzig Sitzungen gehalten, ein halber Scheffel Protokolle verschrieben, mehrere Säcke amtlicher Memoranden aufgehäuft und eine Familiengruft voll unleserlicher Berichte abgefaßt worden wären.

      Dieses herrliche Institut kam schon frühzeitig auf, als jenes eine erhabene Prinzip, das die schwierige Kunst, ein Land zu regieren, in sich schloß, sich zuerst den Staatsmännern enthüllte. Es galt zuvorderst diese glänzende Offenbarung zu untersuchen und seinen leuchtenden Einfluß auf alles amtliche Verfahren wirken zu lassen. Was auch zu tun war, das Circumlocution Office war stets allen öffentlichen Verwaltungen in der Kunst zu entscheiden – wie man's nicht machen müsse – voran.

      Durch diesen feinen Kniff, durch den Takt, mit dem es solche Praxis ausführte, und durch den Geist, mit dem es immer darauf hinwirkte, hatte das Circumlocution Office alle öffentlichen Verwaltungen verdunkelt; und es galt fortan, sich auf seine Höhe zu schwingen.

      Es ist klar, daß, »wie man's nicht machen müsse«, das große Studium und die große Aufgabe aller öffentlichen Beamten und Staatsmänner von Fach rings um das Circumlocution Office war. Es ist klar, daß jeder neue Premier und jede neue Regierung, die ans Ruder kamen, weil sie irgend etwas als durchaus notwendig geltend gemacht, sobald sie am Ruder waren, all ihr Sinnen und Trachten darauf richteten, zu ergründen: »wie man's nicht machen müsse.« Es ist klar, daß von dem Augenblick, da eine allgemeine Wahl vorüber war, jeder Heimkehrende, der auf der Wahlbühne gewütet, weil etwas nicht geschehen, und der die Freunde des ehrenwerten Gentleman der Gegenpartei bei Strafe schwerer Verantwortung gefragt, warum es nicht getan worden, und der versicherte, daß es getan werden müsse, und der sich verbürgt, daß es getan werden solle, zu überlegen begann, »wie man's nicht machen könne.« Es ist klar, daß die Debatten der beiden Parlamentshäuser die ganze Sitzung hindurch gleichmäßig und weitläufig den einen Punkt verhandelten: »wie man's nicht machen müsse.« Es ist klar, daß die Thronrede bei der Eröffnung einer solchen Sitzung im wesentlichen nichts anderes sagt als: Meine Lords und Gentlemen, Sie haben eine bedeutende Arbeit vor sich, und Sie werden sich gefälligst in Ihre respektiven Häuser zurückziehen und beraten: »wie man's nicht machen müsse.« Es ist klar, daß die Thronrede am Schlusse einer solchen Session nichts anderes sagen will als: Meine Lords und Gentlemen, Sie haben während mehrerer angestrengter Monate mit großer Hingebung und großem Patriotismus in Betracht gezogen: »wie man's nicht machen müsse«, und es ist Ihnen gelungen, dies herauszufinden, und mit dem Segen der Vorsehung, der über der Ernte (der agrarischen, nicht der politischen) ruht, entlasse ich Sie. All dies ist natürlich klar, aber das Circumlocution Office ging noch weiter.

      Weil das Circumlocution Office sich mechanisch drehte und jahraus, jahrein dieses wunderbare, alles vermögende Rad der Staatskunst: »wie man's nicht machen müsse« in Bewegung erhielt. Weil das Circumlocution Office hinter jedem schlecht unterrichteten öffentlichen Diener her war, der etwas tun wollte oder der durch irgendeinen überraschenden Zufall in entfernter Gefahr war, etwas tun zu wollen, weil es, wie gesagt, hinter ihm mit einem Protokoll, einem Memorandum oder Verhaftungsbefehl her war, die ihn vernichteten. Es herrschte in dem Circumlocution Office der Geist nationaler Kraft, der nach und nach dazu führte, daß es überall seine Hände im Spiel hatte. Mechaniker, Naturphilosophen, Soldaten, Matrosen, Bittsteller, Leute mit Beschwerden, Leute, die Beschwerden zuvorkommen wollten, Leute, die Beschwerden abhelfen wollten, Makler und Leute, die durch Makler übernommen worden, Leute, die den ihren Verdiensten gebührenden Lohn nicht erhalten konnten, und Leute, die ihre Strafe für ihre Verschuldung nicht bekommen konnten, – alle ohne Unterschied wurden in das Propatriapapier des Circumlocution Office einregistriert.

      Eine Menge Menschen verlor sich in dem Circumlocution Office. Unglückliche, denen ein Ungemach widerfahren, oder die Pläne für das allgemeine Wohlsein hatten (und sie waren besser daran, wenn ihnen ein Ungemach widerfuhr, als wenn sie jenes bittre englische Rezept, um sicher eines solchen teilhaftig zu werden, nahmen), die dann im langsamen und peinlichen Verlauf der Zeit den Weg durch andre öffentliche Bureaus gemacht und die dann, wie es immer zu geschehen pflegt, in dem einen überschrien, in dem andern übervorteilt, in dem dritten mit Ausflüchten abgespeist waren, bis sie zuletzt an das Circumlocution Office gewiesen wurden und nie mehr ans Tageslicht kamen. Es wurden Sitzungen ihretwegen gehalten, Sekretäre nahmen Protokolle auf, Unterhändler plauderten für sie, Schreiber registrierten, notierten, buchten und schrieben sie ein – und damit waren sie verschwunden. Kurz, alle Angelegenheiten des Landes gingen durch das Circumlocution Office, mit Ausnahme der Angelegenheiten, die nie daraus verschwanden: und deren war Legion.

      Bisweilen erschienen Angriffe von aufgereizten Menschen gegen das Circumlocution Office. Bisweilen wurden im Parlament Anfragen um seinetwegen gemacht und sogar Anträge im Parlament gestellt oder damit gedroht, – freilich durch Volksfreunde von so geringer Bedeutung und so unwissenden Menschen, daß sie glauben konnten, das wirkliche Leitmotiv der Regierung sei: »wie man's machen müsse«. Dann steckte der edle Lord oder sehr ehrenwerte Gentleman, in dessen Bereich die Aufgabe fiel, das Circumlocution Office zu verteidigen, eine Orange in seine Tasche und machte einen regulären Musterungstag aus der Sache. Er trat in das »Haus«, schlug auf den Tisch und griff den ehrenwerten Gentleman an. Weiter war er der Mann, dem ehrenwerten Gentleman von Anfragenden zu sagen, daß das Circumlocution Office nicht allein keinen Tadel wegen dieser Sache verdiene, sondern aller Empfehlung gerade wegen dieser Sache wert sei, ja bis in den Himmel wegen dieser Sache gefeiert werden müsse. Er war ferner der Mann, dem ehrenwerten Gentleman zu sagen, daß, obgleich das Circumlocution Office immer und unbezweifelt recht habe, es niemals so recht gehabt wie in dieser Sache. Er war endlich der Mann, dem ehrenwerten Gentleman zu sagen, daß es ihm mehr zur Ehre gereicht, mehr sein Ansehen gefördert,


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