Friede kehrt ein. Karin Ackermann-Stoletzky

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Friede kehrt ein - Karin Ackermann-Stoletzky


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weit war, half ich meinem abgemagerten Vater aus dem Bett, setzte ihn in den Rollstuhl und legte eine leichte Decke über seine Beine.

      „Danke, mein Junge!“, sagte er nach Atem ringend, weil ihn die kleine Aktion angestrengt hatte.

      Wie hinfällig der einst so tatkräftige Mann innerhalb weniger Monate geworden war! Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich ihn über den Flur schob. Mutter stand bereits an der Wohnzimmertür und öffnete sie mit einem tapferen Lächeln. Ich fuhr meinen Vater in den verdunkelten Raum.

      In der Zimmerecke leuchteten die Kerzen am Christbaum. Rechts und links daneben standen die restlichen Familienmitglieder und warteten gespannt auf die Reaktion von Opa. Von einer CD erklang ein Weihnachtslied. Wir hatten beschlossen, nicht selbst zu singen, weil wir nicht wussten, ob wir in Tränen ausbrechen würden.

      Opa blinzelte mit den Augen und schaute sich ungläubig um.

      „Opa, gefällt es dir, dass wir Weihnachten im Sommer feiern?“, fragte meine 10-Jährige, als der letzte Ton von „O du fröhliche“ verklungen war.

      „Weil du Weihnachten so sehr liebst und das Fest im Dezember wohl nicht mehr mit uns feiern kannst …“, Mutter versagte die Stimme.

      „… sondern mit Jesus im Himmel“, ergänzte meine Schwester, „wollten wir es mit dir noch einmal zusammen feiern.“

      Opa nickte, zu überwältigt von der großen Freude, die wir ihm bescherten.

      Dann setzten wir uns, tranken Kaffee und aßen die Weihnachtsplätzchen, die meine Schwester am Vorabend noch gebacken hatte, bevor sie sich am frühen Morgen wieder ins Auto setzte, um zu uns zu fahren.

      Zugegeben: Das Zusammensein war nicht so fröhlich und ungezwungen wie am „richtigen“ Heiligen Abend. Und „richtige“ Weihnachtsstimmung kam auch nicht auf an diesem heißen Freitagnachmittag, während draußen die Vögel zwitscherten und betörender Rosenduft durch die Ritzen des heruntergelassenen Rollos strömte. Es gab auch keine Geschenke, außer dem einen Geschenk, das wir Opa mit dem Fest machten.

      „Opa“, sagte da mit einem Mal meine Frau, „mir fällt gerade ein, dass bei unserem Weihnachtsfest heute noch was Wesentliches fehlt.“

      „Ich weiß, was du meinst“, sagte er und zu Mutter gewandt: „Hol mir bitte meine Bibel!“

      Beinah ehrfurchtsvoll nahm Opa das alte Buch in die Hand, rückte sich im Rollstuhl zurecht und schlug den Evangelisten Lukas auf. Dann begann er zu lesen. Seine Stimme zitterte, als er die bekannten Worte vorlas. Doch als er zu seiner Lieblingsstelle kam, wurde sie wie gewohnt fest: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Opa hielt lange inne, zu bewegt, um weiterzulesen. Mutter drückte ihm zärtlich die Hand und las die restlichen Verse der Weihnachtsgeschichte vor.

      Zwei Monate später starb Opa. Es war ein schwerer Abschied, und doch tröstete uns der Gedanke, dass für Opa nun jeden Tag Weihnachten war.

      von Ingrid Boller

      „Hallo Heike, hier ist Gabi.“

      „Hallo Gabi, schön, dich zu hören! Wie geht es dir? Hast du deine Weihnachtsvorbereitungen schon abgeschlossen?“

      „Danke, ich bin ganz gut vorangekommen. Aber es ist ja auch nicht mehr viel.“

      „Ja, das stimmt. Ich habe auch nur noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen, und übermorgen fahre ich schon nach Bayern zu den Kindern. Sie haben mich für die Weihnachtsfeiertage eingeladen. Ich freu mich so sehr darauf, vor allem auf mein Enkelkind.“

      „Ja, das kann ich gut verstehen. Dann bist du also Heiligabend gar nicht hier“, schlussfolgerte Gabi.

      „Nein, ich komme erst zwischen den Jahren wieder.“

      „Dann wünsche ich dir richtig schöne Feiertage!“

      „Danke, ich dir auch! Tschüs!“

      „Danke, tschüs!“

      Mit einem leisen Seufzer drückte Gabi die rote Auflegetaste ihres Telefons, um das Gespräch zu beenden. Sie hatte vorgehabt, Heike für den Heiligabend zu sich einzuladen. Seit Gabis Mann vor einigen Jahren gestorben war, hatten sie ein paar Mal diesen Abend zusammen verbracht. Heikes Tochter, eine Ärztin, war mit einem Ingenieur verheiratet. Die beiden hatten drei Jahre als Entwicklungshelfer in Uganda verbracht. Im letzten Frühjahr waren sie zurückgekommen, und im Herbst war Heike Großmutter geworden. Gabi gönnte es der Freundin von Herzen, zumal Heike und ihr Mann sich schon vor Jahren getrennt hatten.

      Gabi spürte, wie sich Wehmut und Einsamkeit in ihr ausbreiteten. Kai, ihr Sohn, war als Manager eines großen Konzerns beruflich sehr eingespannt. Ihre Schwiegertochter Katja arbeitete als Juristin in einer großen Kanzlei. Die beiden wollten über die Feiertage richtig ausspannen und waren vorgestern nach Thailand geflogen.

      Für Gabi war es kaum vorstellbar, Weihnachten ganz woanders zu verbringen, schon gar nicht an einem Strand bei dreißig Grad im Schatten. Nein, am liebsten war sie zu Hause, ganz traditionell mit Christvesper, Weihnachtsbaum, Weihnachtsgans und den vertrauten Weihnachtsliedern. Vielleicht würde es sogar schneien. Aber sie konnte auch verstehen, dass Kai und Katja gern einmal die Möglichkeit eines solchen Urlaubs wahrnehmen wollten. Vielleicht, so dachte Gabi, planten die beiden ja Nachwuchs. Und dann wäre sowieso alles anders.

      Verstand und Verständnis war die eine Sache, das Gefühl eine andere. Und das Gefühl drohte sie jetzt doch zu überwältigen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen hinunterschlucken. Wen könnte sie sonst einladen? Andrea und Frank bekamen Besuch von ihren erwachsenen Kindern. Sie hatten schon drei putzmuntere Enkel, die – wie Andrea sagte – alles ordentlich aufmischen würden. Gabi hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sie mitfeiern dürfte, obwohl Andrea und ihr Mann sehr offen und gastfreundlich waren. Aber Gabi wollte auf keinen Fall Gefahr laufen, ein Fremdkörper zu sein. Deshalb kam das nicht in Frage.

      Ob sie es mal bei Ute versuchte? 953871 – ja, die Nummer stimmte. „Ute Zimmermann“ stand im Display. Wenigstens auf ihr Gedächtnis konnte sich Gabi verlassen.

      Tuuuut – tuuuut – tuuuut – tuuuut – quälend lang kam das Freizeichen. „Zurzeit ist niemand zu Hause. Bitte sprechen Sie Ihre Nachricht nach dem Signalton.“ Sogar die neutrale Stimme des Anrufbeantworters erschien Gabi unfreundlich. Wo steckte Ute bloß? Dann fiel ihr ein, dass die Kollegin am letzten Arbeitstag von einem Wellnesshotel erzählt hatte, wo sie mit Freunden die Feiertage verbringen wollte. Ein supergünstiges Angebot, hatte sie Gabi erzählt. Es wären auch noch ein paar Plätze frei. Ob Gabi nicht ...? Aber Gabi hatte dankend abgelehnt. Nein, das war nichts für sie.

      Ihr fiel niemand mehr ein. Sie würde wohl den Heiligabend nach dem Gottesdienst allein verbringen müssen. „Lieber Gott, soll ich wirklich allein sein?“, betete sie laut.

      Es half nichts. Energisch putzte sie sich die Nase. Bloß kein Selbstmitleid! Sie würde auch für sich allein ein schönes Essen kochen. Wo hatte sie nur das Rezept hingelegt, das sich so lecker anhörte und das sie ausprobieren wollte? Sie kramte in ihrer Zettelbox. Hier musste es doch irgendwo sein. Ein gelbes Blatt Papier war es gewesen ...

      Ihre Suche wurde vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen. „Guten Tag, Frau Heine, hier ist Katharina Schober vom CVJM Rechenberg. Ich habe eine Anfrage an Sie.“

      Während Frau Schober munter drauflos redete, versuchte Gabi, rational pro und kontra abzuwägen und gleichzeitig ihre Emotionen zu sortieren. Seit einigen Jahren richtete der CVJM Rechenberg an Heiligabend eine Weihnachtsfeier für Bedürftige aus. Auch dieses Jahr liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Ausgerechnet jetzt, so Frau Schober, waren einige Mitarbeiter wegen Grippe ausgefallen. Ausgeschlossen, dass sie in den paar Tagen, die noch bis zum Fest blieben, wieder auf die Beine kommen würden. Ob Gabi vielleicht aushelfen könnte? Es wäre immer ein besonderes Erlebnis für die Mitarbeiter, auch wenn viele zunächst skeptisch seien. Frau Schober klang sehr enthusiastisch.

      „Wie kommen Sie denn auf mich?“, erkundigte sich Gabi etwas ratlos, weil sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.


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