David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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wenn sie es wag­te, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

      »O Davy, Davy!«

      »Kla­ra«, sagt Mr. Murd­sto­ne, »sei fest mit dem Jun­gen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kin­disch. Ent­we­der kann er sei­ne Lek­ti­on oder er kann sie nicht.«

      »Er kann sie nicht«, fällt Miss Murd­sto­ne mit grau­en­er­re­gen­dem Nach­druck ein.

      »Ich fürch­te wirk­lich, er kann sie nicht«, sagt mei­ne Mut­ter.

      »Nun dann, Kla­ra«, er­wi­dert Miss Murd­sto­ne, »soll­test du ihm das Buch zu­rück­ge­ben und ihm das sa­gen.«

      »Ja, ge­wiss«, stimmt mei­ne Mut­ter bei. »Das woll­te ich tun, lie­be Jane. Also Davy, ver­such es noch ein­mal und mach es gut.«

      Ich ge­hor­che dem ers­ten Teil der Er­mah­nung und ver­su­che es noch ein­mal; mit dem zwei­ten Teil bin ich nicht so glück­lich, denn ich ma­che es sehr schlecht. Ich blei­be ste­cken, frü­her noch als vor­hin, an ei­ner Stel­le, die ich eben noch gut kann­te, und hal­te inne, um nach­zu­den­ken. Aber ich kann nicht an die Auf­ga­be den­ken, ich muss dar­an den­ken, wie viel El­len Spit­zen auf Miss Murd­sto­nes Hau­be sein mö­gen oder was Mr. Murd­sto­nes Schlaf­rock ge­kos­tet oder an an­de­re al­ber­ne Din­ge, die mich nichts an­ge­hen! Mr. Murd­sto­ne macht die un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, die ich schon lan­ge er­war­tet habe. Miss Murd­sto­ne tut das­sel­be. Mei­ne Mut­ter blickt un­ter­wür­fig nach ih­nen hin, klappt das Buch zu und legt es bei­sei­te als einen Rück­stand, der nach­ge­holt wer­den muss, wenn die an­de­ren Auf­ga­ben be­en­det sind.

      Bald liegt ein gan­zer Stoß sol­cher Rück­stän­de da und wächst an wie eine La­wi­ne. Je hö­her er wird, umso ver­na­gel­ter wer­de ich. Der Fall ist so hoff­nungs­los, dass ich das Ge­fühl habe, in ei­nem tie­fen Sumpf von Un­sinn her­um­zu­wa­ten, und je­den Ge­dan­ken wie­der her­aus­zu­be­kom­men auf­ge­be und mich mei­nem Schick­sal über­las­se. Die ver­zwei­fel­te Angst, mit der mei­ne Mut­ter und ich ein­an­der an­se­hen, ist wirk­lich trüb­sin­nig. Aber der Haupt­schlag kommt, wenn mei­ne Mut­ter sich un­be­ob­ach­tet glaubt und mir das Stich­wort durch eine Be­we­gung der Lip­pen zu ver­ra­ten sucht. In die­sem Au­gen­blick sagt Miss Murd­sto­ne, die bloß dar­auf ge­war­tet hat, mit tiefer war­nen­der Stim­me:

      »Kla­ra!«

      Mei­ne Mut­ter fährt zu­sam­men, wech­selt die Far­be und lä­chelt schüch­tern. Mr. Murd­sto­ne steht von sei­nem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schul­tern zur Tür hin­aus.

      Wenn die Stun­den aus sind, kommt erst das Schlimms­te in Ge­stalt ei­nes ent­setz­li­chen Re­chenexem­pels. Das ist für mich be­son­ders er­fun­den und wird mir durch Mr. Murd­sto­ne münd­lich über­lie­fert. Es fängt an:

      »Wenn ich in einen Kä­se­la­den gehe und kau­fe fünf­tau­send dop­pel­te Glou­ces­ter­kä­se zu vier und ei­nem hal­b­en Pen­ny – au­gen­blick­lich zahl­bar« – Miss Murd­sto­nes Züge wer­den über­glück­lich bei die­ser Wen­dung – und so wei­ter und so wei­ter. Bis Mit­tag brü­te ich über die­sen Kä­sen ohne Re­sul­tat oder Er­leuch­tung, und wenn ich dann durch Ab­wi­schen der mit Schie­fer be­schmutz­ten Fin­ger an mei­nem schweiß­trie­fen­den Ge­sicht einen Mu­lat­ten aus mir ge­macht habe, be­kom­me ich ein Stück­chen Brot ohne But­ter zu mei­nen Kä­sen und bin für den Abend in Un­gna­de ge­fal­len.

      Nach so vie­len Jah­ren scheint es mir, als ob mei­ne un­glück­li­chen Stu­di­en im­mer den­sel­ben Ver­lauf ge­nom­men hät­ten. Ich wäre sehr gut vor­wärts­ge­kom­men ohne die Murd­sto­nes, aber ihr Ein­fluss auf mich war wie der ban­nen­de Blick, den zwei Schlan­gen auf einen ar­men klei­nen Vo­gel rich­ten.

      Selbst wenn ich ziem­lich gut durch die Mor­ge­n­ar­bei­ten kam, hat­te ich nicht viel mehr ge­won­nen als die freie Zeit des Mit­ta­ges­sens, denn Miss Murd­sto­ne konn­te mich nie un­be­schäf­tigt se­hen; und wenn ich un­vor­sich­ti­ger­wei­se mer­ken ließ, dass ich ge­ra­de nichts zu tun hat­te, so lenk­te sie ih­res Bru­ders Auf­merk­sam­keit auf mich, in­dem sie sag­te: »Lie­be Kla­ra, es geht nichts über die Ar­beit, – gib dei­nem Jun­gen et­was auf.« Und das hat­te stets zur Fol­ge, dass ich so­fort über eine neue Ar­beit ge­duckt wur­de. Von Zer­streu­un­gen mit an­de­ren Kin­dern mei­nes Al­ters war kaum die Rede, denn dem fins­tern Pu­ri­ta­nis­mus der Murd­sto­nes er­schie­nen alle Kin­der wie eine Brut klei­ner Vi­pern. Als ob nie­mals ein Kind in die Mit­te der Jün­ger ge­stellt wor­den wäre!

      Die na­tür­li­che Fol­ge die­ser viel­leicht sechs Mo­na­te oder noch län­ger fort­ge­setz­ten Be­hand­lungs­wei­se war, dass ich ganz stumpf, ver­stockt und schwer von Be­grif­fen wur­de. Nicht we­nig trug dazu bei, dass ich mich täg­lich mehr mei­ner Mut­ter ent­frem­det fühl­te. Ich glau­be, wenn mir nicht ein glück­li­cher Um­stand ge­hol­fen hät­te, ich wäre blöd­sin­nig ge­wor­den.

      Und das war fol­gen­der. Mein Va­ter hat­te eine klei­ne Bü­cher­samm­lung in ei­ner Dach­stu­be ne­ben mei­nem Schlaf­raum, um die sich nie­mand küm­mer­te, hin­ter­las­sen. Aus die­sem ge­seg­ne­ten klei­nen Stüb­chen ka­men Ro­de­rick Ran­dom, Pe­re­gri­ne Pick­le, Hum­phrey Clin­ker, Tom Jo­nes, der Land­pre­di­ger von Wa­ke­field, Don Qui­cho­te, Gil Blas und Ro­bin­son Cru­soe – eine glor­rei­che Schar – zu mir, um mir Ge­sell­schaft zu leis­ten. Sie er­hiel­ten mei­ne Fan­ta­sie le­ben­dig – und mei­ne Hoff­nung auf et­was über die­sen Ort und die­se Zeit hin­aus; sie und Tau­send­und­ei­ne Nacht und die per­si­schen Mär­chen brach­ten mir kei­nen Scha­den, denn was in ei­ni­gen von ih­nen Schäd­li­ches sein moch­te, war für mich nicht da; ich ver­stand nichts da­von. Es ist mir nur un­be­greif­lich, wo­her ich in­mit­ten mei­nes Ho­ckens und Brü­tens über schwie­ri­ge­re The­men die Zeit nahm, alle die­se Bü­cher zu le­sen. Es ist mir jetzt wun­der­bar, wie es für mich in mei­nen klei­nen und doch so großen Lei­den tröst­lich sein konn­te, dass ich die Rol­len mei­ner Lieb­ling­s­cha­rak­tere in die­sen Ge­schich­ten auf mich über­trug und Mr. und Miss Murd­sto­ne mit al­len schlech­ten be­dach­te. Eine gan­ze Wo­che lang war ich Tom Jo­nes in Kin­der­ge­stalt. Die Rol­le Ro­de­rick Ran­doms habe ich wohl einen Mo­nat lang ge­spielt.

      Ich fraß förm­lich ein paar Bän­de Rei­se­be­schrei­bun­gen, ich weiß nicht mehr, wel­che, und ta­ge­lang bin ich in der obe­ren Re­gi­on des Hau­ses heim­lich um­her­ge­streift, be­waff­net mit dem Mit­tel­stück ei­nes al­ten Stie­fel­hol­zes, als Ka­pi­tän Sound­so von der kö­nig­lich bri­ti­schen Flot­te, der von Wil­den be­droht war und sein Le­ben so teu­er wie mög­lich ver­kau­fen woll­te. Nie­mals ver­lor der Ka­pi­tän sei­ne Wür­de, wenn ihm die la­tei­ni­sche Gram­ma­tik um die Ohren ge­schla­gen wur­de. Ich litt wohl dar­un­ter, der Ka­pi­tän aber blieb Ka­pi­tän und ein Held trotz al­ler Gram­ma­ti­ken, al­ler le­ben­den und to­ten Spra­chen.

      Das bil­de­te mei­nen ein­zi­gen und be­stän­di­gen Trost. Wenn ich dar­an den­ke, steht mir ein Som­mer­abend vor Au­gen, wo die Kin­der drau­ßen auf dem Kirch­hof spiel­ten und ich auf dem Bet­te saß und auf Tod und Le­ben drauf­los­las. Jede Scheu­ne in der Nach­bar­schaft, je­der Stein in der Kir­che, je­der Fuß­breit des Fried­hofs stan­den in mei­ner See­le in Ver­bin­dung mit die­sen Bü­chern und ver­tra­ten die Stel­le ei­nes in ih­nen be­rühmt ge­w­ord­nen Or­tes. Ich habe ge­se­hen, wie Tom Pi­pes den Kirch­turm hin­auf­klet­ter­te, habe Strab mit dem Schnapp­sack auf dem Rücken


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