David Copperfield. Charles Dickens

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David Copperfield - Charles Dickens


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ein un­be­deut­sa­mes Bild im­mer an ei­nem Na­men am längs­ten haf­ten bleibt. Nie höre oder lese ich den Na­men Yar­mouth, ohne an einen ge­wis­sen Sonn­tag­mor­gen am Stran­de er­in­nert zu wer­den, wo die Glo­cken in der Kir­che läu­te­ten, die klei­ne Emly sich auf mei­nen Arm stütz­te, Ham nach­läs­sig Stei­ne ins Was­ser warf, und die Son­ne drau­ßen über dem Meer müh­se­lig durch den di­cken Ne­bel drang, und die Schif­fe sich uns so un­deut­lich zeig­ten, als wä­ren sie ihre eig­nen Schat­ten.

      End­lich kam der Tag der Heim­rei­se. Die Tren­nung von Mr. Peg­got­ty und Mrs. Gum­mid­ge konn­te ich noch ver­win­den. Aber der Ab­schied von der klei­nen Emly zer­riss mir das Herz. Wir gin­gen Arm in Arm nach dem Wirts­haus, wo der Fuhr­mann an­spann­te, und un­ter­wegs ver­sprach ich ihr zu schrei­ben. Die­ses Ver­spre­chen lös­te ich spä­ter mit ei­nem Auf­wand von Buch­sta­ben ein, die grö­ßer wa­ren als die, mit de­nen man Mie­t­an­zei­gen zu schrei­ben pflegt. Wir fühl­ten uns ganz ver­nich­tet durch den Ab­schied, und wenn ich je in mei­nem Le­ben in mei­nem Her­zen eine un­be­schreib­li­che Lee­re emp­fun­den habe, so war es an je­nem Tag.

      Die gan­ze Zeit mei­nes Be­suchs über war ich un­dank­bar ge­gen mein müt­ter­li­ches Haus ge­we­sen und hat­te we­nig oder nicht dar­an ge­dacht. Aber kaum wen­de­te ich mei­ne Schrit­te ihm wie­der zu, so wies auch schon vor­wurfs­voll mein ju­gend­li­ches Ge­wis­sen mit stand­haf­tem Fin­ger dort­hin, und ich fühl­te trotz der Ban­gig­keit des Ab­schieds, dass es mei­ne Hei­mat und Mut­ter, mei­ne Trös­te­rin und Freun­din war. Je nä­her wir dem Zie­le ka­men und je ver­trau­ter mir die Um­ge­bung wur­de, de­sto stär­ker wuchs mei­ne Sehn­sucht, in ihre Arme zu ei­len. Peg­got­ty, an­statt die­sen Drang zu tei­len, such­te ihn, wenn auch sanft, in mir eher zu hem­men, und sah ver­le­gen und ver­stimmt drein.

      Trotz der Lang­sam­keit und Lau­nen­haf­tig­keit des Pfer­des lang­ten wir doch end­lich in Krä­hen­horst-Blun­der­sto­ne an. Ich sehe noch den kal­ten, grau­en Nach­mit­tag mit dem dun­keln, reg­ne­ri­schen Him­mel vor mir.

      Die Tür ging auf und ich er­war­te­te, halb la­chend, halb wei­nend vor Er­regt­heit mei­ne Mut­ter zu se­hen. Aber nicht sie, son­dern eine mir frem­de Die­ne­rin trat her­aus.

      »Ach, Peg­got­ty!« sag­te ich trau­rig. »Ist sie noch nicht wie­der zu Hau­se?«

      »Ja, ja, Mas­ter Davy«, sag­te Peg­got­ty, »wart ein biss­chen, Mas­ter Davy, und ich wer­de dir et­was sa­gen.«

      Teils aus Auf­re­gung, teils aus na­tür­li­chem Un­ge­schick mach­te Peg­got­ty beim Heraus­stei­gen aus dem Wa­gen die selt­sams­ten Ma­nö­ver, aber ich fühl­te mich zu ent­mu­tigt und be­trof­fen, um ihr et­was dar­über zu sa­gen. Als sie glück­lich drau­ßen war, nahm sie mich bei der Hand, führ­te mich zu mei­ner Ver­wun­de­rung in die Kü­che und schloss die Tür.

      »Peg­got­ty«, sag­te ich, hef­tig er­schro­cken, »was ist denn?«

      »Du mei­ne Güte, nichts ist, mein lie­ber Davy«, ant­wor­te­te sie und setz­te eine mög­lichst hei­te­re Mie­ne auf.

      »Es ist et­was ge­sche­hen, ich weiß es, wo ist Mama?«

      »Wo Mama ist, Davy?« wie­der­hol­te Peg­got­ty.

      »Ja. Wa­rum ist sie uns nicht ent­ge­gen­ge­kom­men? Und wes­halb sind wir hier her­ein­ge­gan­gen? Ach Peg­got­ty!«

      Mei­ne Au­gen stan­den voll Trä­nen und mir war zum Um­sin­ken.

      »Mein Gott, der gute Jun­ge!« rief Peg­got­ty und hielt mich auf­recht. »Was ist dir? Sprich, mein Herz­blatt!«

      »Sie ist doch nicht tot? Nicht tot? Peg­got­ty?«

      »Nein«, schrie Peg­got­ty mit er­staun­li­cher Kraft in der Stim­me. Dann setz­te sie sich nie­der, fing an zu keu­chen und sag­te, ich hät­te sie fürch­ter­lich er­schreckt.

      Um das wie­der­gutz­u­ma­chen, fiel ich ihr um den Hals, stell­te mich dann vor sie hin und sah sie mit ban­ger Er­war­tung an.

      »Ja, schau, Lieb­ling, ich hät­te dirs schon frü­her sa­gen sol­len, aber ich fand kei­ne Ge­le­gen­heit dazu. Ich hät­te es längst tun sol­len, aber ich konn­te mich partuh« – das war im­mer der Stell­ver­tre­ter in Peg­got­tys Wört­er­heer für »durch­aus« – »nicht dazu ent­schlie­ßen.«

      »Wei­ter Peg­got­ty«, sag­te ich noch mehr er­schreckt als vor­her.

      »Mas­ter Davy«, sag­te Peg­got­ty und knüpf­te ihr Hut­band mit zit­tern­den Hän­den auf – sie war ganz au­ßer Atem: –

      »Was meinst du? Du hast einen Papa be­kom­men.«

      Ich fuhr zu­sam­men und wur­de blass. Ein Et­was – ich weiß nicht was –, das mit dem Grab auf dem Kirch­hof und der Au­fer­ste­hung der To­ten zu­sam­men­hing, schi­en mich wie ein gif­ti­ger Hauch zu strei­fen.

      »Ei­nen neu­en«, sag­te Peg­got­ty.

      »Ei­nen neu­en?« wie­der­hol­te ich.

      Peg­got­ty schluck­te, als ob ihr et­was Har­tes im Hal­se ste­cken ge­blie­ben wäre, reich­te mir die Hand und sag­te:

      »Komm, du musst ihn se­hen –«

      »Ich will ihn nicht se­hen.«

      »– und dei­ne Mama.«

      Ich wi­der­stand nicht län­ger, und wir gin­gen so­gleich in das Empfangs­zim­mer, wo sie mich ver­ließ.

      An der einen Sei­te des Ka­mins saß mei­ne Mut­ter, an der an­de­ren Mr. Murd­sto­ne. Mei­ne Mut­ter ließ ihre Ar­beit sin­ken und stand rasch auf, aber, wie es mir schi­en, furcht­sam.

      »Lie­be Kla­ra«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »den­ke dar­an! Be­herr­sche dich, im­mer be­herr­sche dich! Davy, mein Jun­ge, wie geht es dir?«

      Ich gab ihm die Hand. Nach ei­nem Au­gen­blick der Un­ent­schlos­sen­heit ging ich zu mei­ner Mut­ter und küss­te sie; sie küss­te mich wie­der, klopf­te mir sanft auf die Schul­ter und nahm wie­der ihre Ar­beit zur Hand. Ich konn­te ihn nicht an­se­hen, ich konn­te sie nicht an­se­hen, ich wuss­te be­stimmt, dass er uns bei­de an­sah, und ich ging ans Fens­ter und blick­te hin­aus auf ein paar Stau­den, die ihre Köp­fe in der Käl­te hän­gen lie­ßen.

      So­bald ich mich weg­drücken konn­te, schlich ich die Trep­pe hin­auf. Mein lie­bes, al­tes Schlaf­zim­mer war ganz an­ders ge­wor­den, und ich muss­te weit hin­ten schla­fen. Ich ging wie­der hin­un­ter, um ir­gen­det­was zu fin­den, das sich nicht ver­än­dert hät­te, so fremd schi­en mir al­les, und trat auf den Hof hin­aus. Schnell schreck­te ich zu­rück, denn die lee­re Hun­de­hüt­te war jetzt von ei­nem großen Hund be­wohnt, der eine tie­fe Stim­me und schwar­ze Haa­re hat­te – wie er – und grim­mig an sei­ner Ket­te riss, um über mich her­zu­fal­len.

      Wäre das Zim­mer, wo da­mals mein Bett stand, ein füh­len­des We­sen, möch­te ich es heu­te – wer wohl jetzt dar­in schla­fen mag – zum Zeu­gen an­ru­fen, wie schwer mir das Herz war, als ich ein­trat.

      Wie ich die Trep­pe hin­auf­ging, hör­te ich den Hund hin­ter mir drein­bel­len; und drin­nen sah ich die Stu­be mit eben­so frem­den Au­gen an wie sie mich. Ich setz­te mich hin, die klei­nen Hän­de ge­fal­tet, und dach­te nach.

      Ich dach­te an die selt­sams­ten


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