David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.alles geglaubt, was ihm zu erzählen mir eingefallen wäre, denn er empfand die größte Hochachtung vor meiner Gescheitheit und sagte seiner Frau, ich sei der reinste »Roeshus«. Damit meinte er ein Wunderkind.
Als wir das Thema Sterne erschöpft hatten, oder besser gesagt, als ich die geistigen Fähigkeiten Mr. Barkis’ erschöpft hatte, nahmen die kleine Emly und ich ein altes Umschlagtuch als gemeinsamen Mantel um und blieben so während der ganzen Rückfahrt sitzen. Ach, wie sehr ich sie liebte! Welche Seligkeit, dachte ich, wenn wir verheiratet wären und hinaus in die weite Welt gehen könnten, um unter den Bäumen und in den Feldern zu leben, – wenn wir niemals älter und klüger zu werden brauchten, immer Kinder Hand in Hand im Sonnenschein über blumige Wiesen wandeln und abends im Schlummer der Unschuld und des Friedens das Haupt aufs weiche Moos legen dürften; welche Seligkeit, dereinst von den Vögeln des Himmels begraben zu werden, wenn wir stürben. Solche Traumbilder, lichtstrahlend wie unsere Unschuld, unerreichbar wie die Sterne über unsern Häuptern, gaukelte mir mein Geist vor den ganzen Weg. Es freut mich, dass zwei so unschuldvolle Herzen wie Emly und ich Peggottys Hochzeit verschönten.
Wir kamen noch beizeiten zu dem alten Boot; dort nahmen Mr. und Mrs. Barkis Abschied von uns und fuhren gemächlich nach Hause in ihr eignes Heim. Da fühlte ich das erste Mal, dass ich Peggotty verloren hatte. Unter jedem anderen Dache als hier, wo ich die kleine Emly bei mir wusste, wäre ich mit blutendem Herzen zu Bett gegangen.
Mr. Peggotty und Ham sahen mir an, worunter ich litt, hielten ein Abendessen bereit und setzten ihre gastlichsten Gesichter auf, um mir meine traurigen Gedanken zu vertreiben. Die kleine Emly saß neben mir auf dem Koffer – das erste Mal, seit ich hier weilte, und es war ein wundervoller Schluss für einen herrlichen Tag.
Diese Nacht war Flut. Und bald, nachdem wir uns schlafen gelegt, fuhren Mr. Peggotty und Ham zum Fischen aus. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, in dem einsamen Haus als Beschützer Emlys und Mrs. Gummidges zurückgelassen zu sein, und wünschte mir nur, dass ein Löwe oder eine Schlange oder ein anderes bösartiges Ungeheuer uns überfallen möchte, damit ich es vernichten und mich mit Ruhm bedecken könnte. Aber da nichts dieser Art auf den Dünen von Yarmouth herumstreifte, ließ ich mir, um diesem Mangel abzuhelfen, bis zum Morgen von Drachen träumen.
Am Morgen kam Peggotty und rief mich wie gewöhnlich ans Fenster, als ob Mr. Barkis, der Fuhrmann, von Anbeginn an nur ein Traum gewesen wäre. Nach dem Frühstück nahm sie mich mit sich nach Hause. Sie bewohnten ein wunderschönes kleines Heim. Von allen Möbeln darin machte mir ein alter Schreibtisch aus dunklem Holz im Empfangszimmer, dessen Deckel aufgeschlagen ein Pult bildete, worauf eine große Quartausgabe von Fox’ »Buch der Märtyrer« lag, den tiefsten Eindruck. Als Wohnstube diente eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Küche. Das kostbare Buch, von dem ich keine Silbe mehr weiß, entdeckte und studierte ich sogleich; nie wieder später besuchte ich das Haus, ohne auf das Pult zu klettern und es zu verschlingen. Am meisten erbauten mich die vielen Bilder, die alle Arten von Martern darstellten; die Märtyrer und Peggottys Haus sind seitdem in meiner Seele unzertrennlich miteinander verknüpft.
Ich nahm an diesem Tage von Mr. Peggotty und Ham und der kleinen Emly Abschied und schlief in der Nacht bei Peggotty in einem Dachstübchen, – das Krokodilbuch lag in einem Fach zuhaupten des Bettes – das immer mein Zimmer sein und immer für mich hergerichtet bleiben sollte.
»Solange ich lebe, lieber Davy, und unter diesem Dache wohne«, sagte Peggotty, »sollst du dieses Zimmer vorfinden, als ob ich dich jede Minute erwartete. Ich will es jeden Tag bereit halten, wie dein früheres altes kleines Zimmer, und wenn du selbst nach China gingst, soll es die ganze Zeit, wo du abwesend bist, auf dich warten.«
Ich fühlte von ganzem Herzen die Wahrheit aus diesen Worten meiner lieben alten Kindsfrau heraus und dankte ihr, so gut ich vermochte. Es fiel nicht sehr überschwenglich aus, denn sie gab mir ihre Versicherung, die Hände um meinen Hals gelegt, erst an dem Morgen, als ich mit ihr und Mr. Barkis nach Hause fuhr. Sie verließ mich am Gartentor in Blunderstone.
Es war ein bedrückender Anblick für mich, den Wagen mit Peggotty fortfahren zu sehen, während ich unter den alten Ulmen vor dem Hause stand, in dem kein Blick von Liebe oder Zuneigung mehr auf mir ruhen sollte.
Von diesem Zeitpunkt an verfiel ich in einen Zustand des Verlassenseins, auf den ich ohne Ergriffenheit nicht zurückblicken kann. Gänzlich vernachlässigt, ohne Gesellschaft von Knaben meines Alters, war ich ohne jede Aufgabe, allein gelassen mit meinen eignen trüben Gedanken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ihren Schatten auf das Papier zu werfen scheinen.
Was würde ich darum gegeben haben, wenn man mich wieder in eine Schule geschickt hätte – und wäre sie noch so streng gewesen –, mich auch nur das Geringste gelehrt hätte. Keine Hoffnung lag vor mir. Man konnte mich nicht leiden, sah hartnäckig und mürrisch an mir vorbei. Ich glaube, Mr. Murdstone besaß damals wenig Mittel, aber das tut wenig zur Sache. Er konnte mich nicht ausstehen, und ich glaube, er wollte meine Ansprüche an ihn vergessen, indem er mich vernachlässigte.
Ich wurde nicht tätlich misshandelt. Man schlug mich nicht und tadelte mich nicht. Aber das Unrecht, das ich litt, war ohne Unterbrechung und wurde mir in systematischer leidenschaftsloser Weise zugefügt. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wurde ich kalt vernachlässigt. Was sie wohl mit mir angefangen hätten, wenn ich krank geworden wäre? Ob mich jemand gepflegte hätte oder ob sie mich in meinem einsamen Zimmer einfach hätten verschmachten lassen!?
Wenn Mr. und Miss Murdstone zu Hause waren, nahm ich meine Mahlzeit mit ihnen ein. In ihrer Abwesenheit aß und trank ich allein. Zu allen Zeiten trieb ich mich unbeachtet im Hause und in der Nähe herum. Sie gaben nur eifersüchtig acht, dass ich mit niemand Freundschaft schlösse, wahrscheinlich, damit ich mich nicht beklagen könnte.
Wohl aus demselben Grunde war es mir fast nie erlaubt, mit Mr. Chillip einen Nachmittag zu verleben, trotzdem er mich sehr oft einlud. Nur selten durfte ich ihn besuchen. Ebenso selten die ihnen so verhasste Peggotty. Ihrem Versprechen getreu kam die gute Seele einmal in der Woche zu mir, oder wir trafen uns in der Nähe, und nie kam sie mit leeren Händen. Aber wie viele, viele Male täuschte ich mich bitter in der Hoffnung, Erlaubnis zu bekommen, sie in ihrer Wohnung besuchen zu dürfen. Hie und da wurde es mir gestattet, und bei einer solchen Gelegenheit brachte ich heraus, dass Mr. Barkis eigentlich ein Geizhals, oder wie sie es nannte, ein bisschen knickerig war, und viel Geld in einem Koffer unter seinem Bette versteckt hielt, der angeblich voll Kleider und Hosen sein sollte. Mit solcher Zähigkeit verbarg Barkis seine