David Copperfield. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.ließen seine zitternden Hände, die den Klauen eines großen Vogels glichen, meine Haare los, und er setzte eine Brille auf, die seine entzündeten Augen durchaus nicht verschönte.
»O wie viel für die Jacke?« schrie er, nachdem er sie genau betrachtet hatte. »O goru, wie viel für die Jacke?«
»Eine halbe Krone«, sagte ich und fasste wieder langsam Mut.
»O über meine Lunge und Leber«, schrie der alte Mann. »Nix! O über meine Augen. Nix! Gott über meine Glieder Nix! Achtzehn Pence! Goru!« Jedes Mal wenn er diesen Ausruf hören ließ, quollen seine Augen aus ihren Höhlen, und jeder Satz, den er sprach, hatte eine Art Melodie, immer dieselbe. Sie glich einer Art Windesgeheul, das leise anfängt, ansteigt und abnimmt. Ich kann es mit nichts anderem auf der Welt vergleichen.
»Gut«, sagte ich, froh, den Handel abgeschlossen zu haben, »ich will achtzehn Pence nehmen.«
»Gott über meine Leber!« schrie der alte Mann und warf die Jacke in ein Fach, »raus aus dem Laden. Ach Gott über meine Lunge. Raus aus dem Laden. Ach meine Augen und Glieder! Goru! Kein Geld. Mach mer en Tausch.«
Nie in meinem Leben bin ich so erschrocken gewesen, aber ich sagte schüchtern, dass ich Geld brauchte, und dass mir nichts anderes nützen könnte. Dass ich jedoch seinem Wunsch gemäß draußen daraufwarten wollte und keine Eile hätte. Ich ging also hinaus und setzte mich in eine Ecke in den Schatten. Und ich saß dort so viele Stunden, dass der Schatten Sonnenschein und der Sonnenschein wieder Schatten wurde, und immer noch auf mein Geld warte.
Ich glaube, so einen betrunkenen Verrückten gibt es in diesem Geschäftszweig nicht wieder. Dass er in der Nachbarschaft wohl bekannt war und in dem Ruf stand, sich dem Teufel verkauft zu haben, erfuhr ich bald durch die Gassenjungen, die fortwährend um den Laden herumsprangen, ihm das zubrüllten und ihn aufforderten, sein Gold zu zeigen.
»Du bist gar nicht arm, Charley, wie du dich stellst! Zeig dein Gold her. Zeig das Gold her, für das du dich dem Teufel verkauft hast. Komm doch, s ist in der Matratze eingenäht, Charley! Schneid sie auf und zeig uns das Gold!« Dies und viele Anerbietungen, ihm ein Messer zu leihen, brachten den Trödler dermaßen auf, dass der ganze Tag eine Reihenfolge von Ausfällen seinerseits war, auf die die Jungen stets die Flucht ergriffen. Manchmal hielt er mich in seiner Wut für einen der Jungen und stürzte schäumend auf mich los, als wollte er mich in Stücke reißen. Rechtzeitig besann er sich aber immer wieder und zog sich schleunigst in den Laden zurück und warf sich auf sein Bett, wie ich aus dem Klang seiner Stimme schloss, wenn er in seiner dem Windesgeheul ähnlichen Melodie wie irrsinnig das Lied von Nelsons Tod brüllte, mit einem »O« vor jeder Strophe und unzähligen Gorus dazwischen.
Als wäre das noch nicht schlimm genug für mich, brachten mich die Jungen wegen meiner Geduld und Ausdauer in irgendeine Verbindung mit dem Etablissement, zumal ich nur halb angezogen war, bewarfen mich mit Steinen und misshandelten mich den ganzen Tag über.
Der alte Mann machte viele Versuche, mich zu bewegen, in einen Tausch einzuwilligen. Einmal kam er mit einer Angelrute heraus, dann mit einer Fiedel, mit einem Schlapphut und endlich mit einer Flöte. Aber ich widerstand allen seinen Angeboten und blieb in Verzweiflung sitzen. Jedes Mal flehte ich ihn mit den Tränen in den Augen um mein Geld oder meine Jacke an. Endlich fing er an, mich halbpennyweise zu bezahlen und brauchte so zwei volle Stunden zu einem Schilling.
»O meine Augen und Glieder!« schrie er dann nach einer langen Pause in grauenhafter Art aus dem Laden herausschielend. »Willst du für zwei Pence mehr gehen?«
»Ich kann nicht«, sagte ich, »ich muss verhungern.«
»O meine Lunge und Leber. Willst du für drei Pence gehen?«
»Ich würde umsonst gehen«, sagte ich, »wenn ich könnte. Aber ich brauche das Geld jämmerlich nötig.«
»O go-ru!« Es war ganz unbeschreiblich, wie er dieses letzte Röcheln hervorstieß, als er jetzt hinter der Türpfoste hervorlugte, dass man nur den alten schlauen Kopf sehen konnte. »Willst du für vier Pence gehen?«
Ich war so hungrig und müde, dass ich einwilligte und das Geld nicht ohne Zittern aus seiner Klaue nahm. Dann ging ich kurz vor Sonnenuntergang hungriger und durstiger als ich je gewesen meines Weges. Für drei Pence stärkte ich mich bald vollkommen und hinkte, jetzt besserer Laune, sieben Meilen weiter.
Mein Bett in dieser Nacht war wieder ein Heuschober, ich wusch mir die Füße in einem Bach und verband sie, so gut es ging, mit ein paar kühlenden Blättern. Den nächsten Morgen führte mich der Weg durch Hopfenfelder und Obstanlagen. Die Jahreszeit war schon so weit vorgerückt, dass überall reife Äpfel hingen, und an einigen Orten standen die Pflücker schon bei der Arbeit. Ich fand alles wunderschön und beschloss, die Nacht in dem Hopfengarten zu schlafen. Die langen Reihen von Stangen mit den anmutig sich windenden Blättern kamen mir wie eine gemütliche Gesellschaft vor.
Die Landstreicher schienen an diesem Tage gefährlicher als je und flößten mir einen Schrecken ein, dass ich heute noch daran denken muss. Einige von ihnen, wild aussehende Raufbolde, die mich beim Vorbeigehen anstarrten, blieben manchmal stehen und riefen mir zu, umzukehren, und warfen mir, wenn ich ausriss, Steine nach. Ich erinnere mich noch an einen jungen Burschen, nach seinem Felleisen und Kohlenbecken zu schließen, ein Kesselflicker, der ein Frauenzimmer bei sich hatte. Er stierte mich an und rief mir dann mit so fürchterlicher Stimme nach, zurückzukommen, dass ich stehenblieb und mich umsah.
»Komm her, wenn man dich ruft«, sagte der Kesselflicker, »oder ich schlitze dir deinen jungen Bauch auf.«
Ich hielt es für das beste, umzukehren. Als ich näher kam und den Kesselflicker durch freundliche Blicke zu besänftigen suchte, bemerkte ich, dass das Weib ein blaugeschlagenes Auge hatte.
»Wo gehst du hin«, fragte der Kesselflicker und packte mich mit seiner geschwärzten Hand an der Brust.
»Ich gehe nach Dover.«
»Wo kommst du her?« fragte er weiter und packte mich noch fester.
»Ich komme von London.«
»Was hast du für ein Handwerk? Bist du ein Dieb?«
»N-ein«, sagte ich.
»Nicht? Bei G-? Wenn du mit Ehrlichkeit bei mir prahlen willst«, sagte der Kesselflicker, »haue ich dir das Dach ein!«
Mit seiner freien Hand machte er eine Bewegung, als wollte er mich niederschlagen, und musterte mich dann vom Kopf bis zu den Füßen.
»Hast du Geld für eine Kanne Bier bei dir? Wenn dus hast, heraus damit, bevor ich mirs hole.«
Ich würde es gewiss