Friesentod. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.Ihm wurde bewusst, wie viel Zeit vergangen war, als er die mittlerweile erwachsenen Jungen und Mädchen betrachtete. Wer von ihnen konnte etwas mit Tatjana zu tun gehabt haben? Wer kannte sie, war mit ihr befreundet? Sie war erst vor gut einem Jahr nach Risum gezogen, kam aber aus der Gegend. Gut möglich, dass sich unter den Tanzenden ehemalige Klassenkollegen befanden. Er inspizierte die Gäste, als er leicht rüpelhaft von der Seite angestoßen wurde. Etwas Bier schwappte aus seinem Glas.
»Sorry, Alter.« Ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, grinste ihn blöde an. »Haben Sie sich verlaufen?«
»Mensch, Marius«, wies eine Frau den Rempler zurecht. »Entschuldigung.«
Haie nickte und musterte sie. War sie im gleichen Alter wie Tatjana? Heutzutage war das oftmals schwer zu sagen. Oder lag das an seinem Alter? Die jungen Mädchen brezelten sich derart auf, dass er sich manchmal im Alter vertat. Dennoch war es einen Versuch wert.
»Ich bin wegen Tatjana hier.«
»Tatjana?«
»Ja, Tatjana Lieberknecht.«
»Was willst du denn von der?«, mischte sich nun wieder der Rempler ein. Er hatte augenscheinlich schon reichlich Alkohol intus, aber immerhin schien er Haies Nachbarin zu kennen.
»Ich suche sie.«
»Wieso, bist du hinter ihr her?« Wieder grinste sein Gegenüber dümmlich. »Bist du ein Stalker oder was?«
»Nein, sie ist meine Nachbarin und seit ein paar Tagen verschwunden.«
»Echt, letzte Woche war sie noch hier«, entgegnete nun die nette junge Frau. »Ich habe sie zusammen mit Maike gesehen.«
»Maike?« Haie blickte sich suchend um. »Ist die hier?«
»Ja, ich habe sie vorhin auf dem Klo gesehen.«
»Und wo ist sie jetzt?«
Die Angesprochene blickte sich um, zuckte mit den Schultern. »Aber da ist Christian, der ist bestimmt mit ihr zusammen hier.« Sie wies auf einen Mann, der unrhythmisch auf der Tanzfläche herumzappelte.
Haie stellte sein Bier ab und drängte sich zwischen den Leuten zu dem Unbekannten. Oder war das gar der kleine Christian aus dem Herrenkoog? Der, der immer so eine dicke Brille getragen hatte, weswegen ihn die anderen Kinder gehänselt hatten? Konnte das sein? Haie tippte dem Mann auf die Schulter, der reagierte jedoch nicht, sondern tanzte wie in Trance zur Musik. Haie griff ihn am Arm.
»Mensch, was soll das?«, pöbelte Christian, stoppte dann plötzlich in der Bewegung. »Oh Herr Ketelsen, was machen Sie denn hier?«
»Ja, ich, ist deine Freundin hier?« Haie musste schreien, damit ihn der andere verstand.
»Freundin?«
»Maike, die Bekannte von Tatjana.«
»Ach so, ja, aber keine Ahnung, wo die steckt.«
»Und Tatjana?«
»Jana?«
Haie nickte, da ihm der Hals bereits schmerzte. Warum musste die Musik auch so laut sein? Das war ja nicht zum Aushalten.
»Was ist mit der?«
»Ist sie hier? Hast du sie gesehen?«
»Nee.«
Haie seufzte, aber das Geräusch ging in der Musik unter. Er fragte sich, was er hier eigentlich trieb. Er gehörte hier wirklich nicht her. Sein Kopf dröhnte und von den dumpfen Bassklängen schmerzte bereits sein Bauch. Er nickte Christian zu und schlängelte sich durch die Masse zum Ausgang. Als er die Tür öffnete, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.
»Sie suchen Tatjana?« Die junge Frau, die hinter ihm stand, sah blass und sehr dünn aus.
Er nickte.
»Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist. Seit Tagen versuche ich sie anzurufen, aber es geht immer nur die Mailbox ran und auf Nachrichten reagiert sie nicht. Ich mache mir Sorgen.« Sie trat näher an Haie heran. Ihm fiel noch deutlicher auf, wie dürr sie war. Ihre Gesichtshaut wirkte beinahe durchsichtig, aber in ihrem Blick glaubte Haie zu erkennen, dass sie sich wirklich Sorgen um die Freundin machte.
»Ich bin ihr Nachbar und habe sie seit Tagen nicht gesehen. Ihr Haus wirkt verlassen. Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht wegfahren wollte.«
»In Urlaub, nein. Sie bearbeitet, soweit ich weiß, gerade ein sehr wichtiges Projekt. Da nimmt sie sich nicht frei. Ich fürchte, es ist etwas passiert.«
»Ich auch«, gestand Haie ein. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Letzte Woche waren wir zusammen hier, seitdem habe ich nichts von ihr gehört.«
»Und hast du auf ihrer Arbeit angerufen?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Wo arbeitet sie denn?«
»In dem Planungsbüro Niemann, in Leck.«
Haie überlegte, ob dem Arbeitgeber nichts aufgefallen war. Über das Fehlen einer Mitarbeiterin konnte man nicht einfach so hinweggehen, zumal sie anscheinend an einem wichtigen Projekt gearbeitet hatte. Aber auszuschließen war das nicht, denn so wenig wie die Leute sich heutzutage umeinander kümmerten, wunderte ihn so manches nicht. Sein Blick fiel auf sein Gegenüber und ihm wurde bewusst, dass solch eine Pauschalmeinung nicht haltbar war.
»Ich rufe da morgen mal an. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung. Bist du eigentlich Maike?«
Die junge Frau nickte und blickte ihn zweifelnd an. Verständlich, dachte Haie, aber was sollten sie tun? Thamsen hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass die Polizei in diesem Fall nicht zuständig war.
»Wir finden sie«, versicherte Haie und fasste Maike leicht an der Schulter. »Willst du mir deine Nummer geben? Dann kann ich mich bei dir melden, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
»Eh, Alter, Pfoten weg!«, schallte es plötzlich aus Richtung Saal. »Junge Frauen anmachen und so an ihre Nummer kommen. Ganz, ganz billig.«
»Lass«, zischte Maike, während sie in ihrer Handtasche nach einem Stift kramte und etwas suchte, auf dem sie ihre Nummer notieren konnte.
»Du gibst dem doch nicht wirklich …?« Der junge Mann kam näher. »Was bist du denn für eine?«
»Lass mich in Ruhe«, sagte Maike in einem scharfen Ton, den man ihr aufgrund ihrer Erscheinung gar nicht zugetraut hätte. Sie reichte Haie den Zettel. »Melden Sie sich bei mir, wenn Sie etwas von Tatjana hören.«
4. Kapitel
Am nächsten Morgen saß Haie ziemlich zerknautscht am Frühstückstisch und blätterte im Telefonbuch.
»Na, wie war dein Discoabend?«, fragte Tom in lästerlichem Ton, als er die Küche betrat.
»Es gibt außer mir noch weitere Leute, die Tatjana vermissen.«
»Echt?« Tom ging ans Fenster und blickte zum Nachbarhaus hinüber.
»Alles unverändert«, sagte Haie. »Daher rufe ich heute mal ihren Arbeitgeber an.«
»Also, das kannst du doch nicht machen.«
»Und ob, die Frau ist letzte Woche zum letzten Mal gesehen worden. Da kann man ja wohl mal auf ihrer Arbeitsstelle nachfragen.«
»Solltest du das nicht lieber Dirk überlassen?«
»Der macht nichts, hat er gesagt. Das ist eine erwachsene Frau, die kann tun und lassen, was sie will, war seine Begründung.«
»Womit er nicht ganz unrecht hat.« Tom goss sich einen Kaffee ein. »Hast du mal geklingelt bei ihr?«
»Mehrmals, aber da tut sich nichts, und durch die Fenster kann man nicht reinblicken, da die Jalousien unten sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu Hause ist.«
»Vielleicht ist sie umgekippt