Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße


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rannte über den Flur zur vorderen Haustür. Hinter ihm klirrte eine Scheibe. Durch den Haupteingang flüchtete er aus seinem Haus, rannte zur Straße, rief laut um Hilfe.

      Kapitel 5

      Ich hatte heute mit zwei Notfalleinsätzen zu tun, die auf ihre Art ein Symbol dafür waren, dass es bei mir zurzeit nicht rund lief.

      Als Erstes meldete sich das Polizeikommissariat Hannover-Misburg. In Anderten war ein vermutlich psychisch kranker Mann von der Polizei überwältigt worden, nachdem er zuvor den Schriftsteller Philipp Rathing auf dessen Grundstück körperlich angegriffen hatte. Die Polizei hatte den Mann mit aufs Kommissariat genommen.

      „Es geht um einen Ralf Grothe. Der war völlig von der Rolle. Wir mussten ihn für den Transport an Händen und Füßen fesseln“, erklärte mir am Telefon der zuständige Polizeioberkommissar. „Jetzt schreit er in der Gewahrsamszelle rum … Könnten Sie bitte sofort kommen und ärztlich überprüfen, ob die akute Fremdgefährdung tatsächlich auf einer psychischen Krankheit beruht?“

      Sollte das nach fachärztlicher Einschätzung der Fall sein, müsste der Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden.

      „Wir kennen ihn aus dem letzten Jahr … Anzeige wegen Körperverletzung“, ergänzte der Polizist. „Damals hatte der kassenärztliche Bereitschaftsdienst eine Psychose mit manischer Auslenkung diagnostiziert. Daraufhin wurde Grothe auf freiwilliger Basis ins Krankenhaus gebracht.“

      „In einer halben Stunde sind wir bei Ihnen“, versprach ich.

      Philipp Rathing, wie interessant, ging mir durch den Kopf. Vor neunundzwanzig Jahren, 1987, hatte ich mit ihm zusammen Abitur im Lindener Hermann-Hesse-Gymnasium gemacht. Zuletzt hatten wir uns vor gut neun Jahren gesehen, bei der 20-Jahr-Feier unseres Abi-Jahrgangs.

      Kurz durchforstete ich unsere elektronische Patientendatei. Einen Ralf Grothe konnte ich nicht entdecken. Bisher also keine Berührungspunkte mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst.

      Ich verständigte Saskia Ahlborn, eine erfahrene Sozialarbeiterin Ende fünfzig. Heute war sie meine Begleitung bei allen Notfalleinsätzen.

      In meinem VW Golf fuhren wir über den Schnellweg in den östlichen Teil Hannovers. Ich steuerte durch den erstaunlich zäh fließenden Verkehr. Der Wagen hatte schon sehr viele Winter hinter sich gebracht, war dafür noch ganz gut in Schuss, verfügte allerdings nicht über zeitgemäße Technik wie eine Bluetooth-Freisprechanlage. Mein Smartphone, auf dem die Notrufe eingingen, hatte ich daher während der Fahrt an Saskia weitergereicht.

      Ich war froh, während der Fahrt nichts mit Telefonaten zu tun zu haben. So konnte ich mich meiner Gedankenkette widmen, in der sich Berufliches und Privates vermischte: Philipp Rathing, Hermann-Hesse-­Gymnasium, Anna … Der Auszug meiner langjährigen Lebenspartnerin ließ mich einfach nicht los.

      Gut, dass Saskia neben mir saß und die nächsten Minuten alle Anrufer von mir fernhielt.

      Denn schon klingelte es.

      *

      Saskia Ahlborn nahm den Anruf, weitervermittelt über die Einsatzleitstelle, entgegen: „Guten Tag, mein Name ist Ahlborn, Sozialarbeiterin der Notfallbereitschaft des Sozialpsychiatrischen Dienstes.“

      Ein unsicher klingender Mann meldete sich, nannte kurz seinen Namen, teilte besorgt mit: „Peter Horand, ein Bekannter von mir, ist in letzter Zeit schlecht drauf, irgendwie mürrisch … und redet wenig. Er ist Frührentner und arbeitet nicht mehr. Heute Morgen wollt ich ihn anrufen, aber er geht nicht ans Festnetz. Und hat sein Handy ausgeschaltet.“

      „Könnte es sein, dass er einkaufen ist und vergessen hat, sein Handy wieder einzuschalten?“, fragte Saskia das Naheliegendste.

      „Kann sein, glaube ich aber nicht.“

      „Ist bei Herrn Horand eine psychische Erkrankung bekannt? Gab es schon mal Hinweise auf Suizidalität?“

      „Das weiß ich nicht. Ich bin kein Psychiater.“ Der letzte Satz klang leicht ärgerlich. „Könnten Sie mal nach meinem Bekannten sehen?“

      Saskia erfragte Adresse und Telefonnummer von Peter Horand und erklärte:

      „Herr Dr. Seifert und ich sind gerade auf dem Weg zu einem eiligen Notfall. Anschließend kümmern wir uns um Ihre Angelegenheit. Wohnen Sie in der Nähe von Herrn Horand und könnten dort schon mal nach dem Rechten sehen?“

      „Wir wohnen in verschiedenen Stadtteilen. Ich sitz hier zu Hause und ruf von meinem Festnetzapparat an. Aber dann fahr ich da eben selbst hin.“

      „Das ist ein guter Vorschlag. Bitte melden Sie sich jederzeit, wenn’s neue Erkenntnisse gibt.“

      Der Anrufer beendete das Gespräch.

      *

      Im Polizeikommissariat Misburg wurden wir dringend erwartet. Kai Duensing, Mitte dreißig, der für den Fall Ralf Grothe zuständige Polizeioberkommissar, bat uns, ihm in ein Büro im hinteren Teil des Kommissariats zu folgen und Platz zu nehmen. Ein nüchtern eingerichteter Raum mit dem allernotwendigsten Inventar. Aktenschrank, Schreibtisch mit PC, ein kleiner Tisch, insgesamt vier Stühle.

      „Herr Grothe wird gleich hierhergebracht. Dann können Sie mit ihm reden und eine Diagnose stellen“, erklärte Duensing. „Ich als medizinischer Laie halte den Mann für völlig verrückt.“

      Zwei kräftige Polizeibeamte führten Ralf Grothe herein. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Der Grund dafür war schnell erkennbar. Sämtliche Muskeln seines Körpers schienen unter Anspannung zu stehen. Er wirkte wie eine tickende Zeitbombe, leistete jedoch im Moment keinen Widerstand. Alles an ihm war schwarz: sein Pullover, seine Lederhose, seine Stiefel. Bis auf das schüttere Haupthaar und den Bart, wo inzwischen das Grau überwog.

      „Der Herr Irrenarzt ist also auch schon eingetroffen“, gab er zur Begrüßung lautstark von sich. „Bist du überhaupt dafür qualifiziert, schwule Gehirne zu analysieren?“

      Seine Bewacher setzten ihn auf einen der Stühle, postierten sich links und rechts dahinter.

      Saskia und ich saßen dem gefesselten Mann gegenüber, den Tisch zwischen uns. Duensing hielt sich etwas abseits.

      Wir stellten uns Grothe mit Namen und Funktion vor. Ich bat ihn darum, im folgenden Gespräch beim Sie zu bleiben.

      „Die studierten Herrschaften legen Wert auf Etikette … Na, dann will ich mal zeigen, dass ich gute Manieren habe“, brummte er und ergänzte mit Blick auf Saskia: „Du … entschuldige … Sie brauchen keine Angst zu haben. An Muschis geh ich nicht ran.“

      „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Sie mir was antun“, antwortete Saskia ruhig. „Und bei Muschis fühle ich mich nicht angesprochen.“

      Ehe ich eine Frage stellen konnte, äußerte Grothe verärgert: „Die haben mir hier die Jacke ausgezogen. Jetzt könnt ihr gar nicht erkennen, wer ich bin … Schon mal was von den Rainbow-Bikern gehört?“

      Ich nickte. Es handelte sich um einen in der Region Hannover ansässigen Motorradclub für schwule Biker. Ich teilte ihm mein Wissen mit, wodurch ich kurzfristig bei ihm punktete.

      „Für’n Hetero gar nicht so übel.“

      Ich nutzte die Gunst des Augenblicks und fragte ihn, was er bei Philipp Rathing in Anderten gewollt habe.

      „Ich hab Rathing einen Besuch abgestattet, um ihm persönlich die Quittung für sein ekliges Geschmiere zu verpassen. Erst interviewt er mich scheinheilig, dann schreibt er diese Kacke, die mich und die Jungs lächerlich macht und alle Schwulen und Lesben zu Psychopathen abstempelt.“ Grothe redete sich in Rage, immer schneller und mit zunehmender Lautstärke. Schließlich endete er mit dem Satz: „Ich bin der Rächer des guten Rufs aller Schwulen und Lesben, habt ihr’s kapiert?!“

      Als Nächstes fragte ich ihn, bei wem er zuletzt in ambulanter psychiatrischer Behandlung gewesen sei.

      „Dr. Mielke, ganz okay der Typ. Geh ich seit paar Monaten


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