Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße
Читать онлайн книгу.Die verordneten Psychopharmaka hatte Grothe offenbar abgesetzt.
Von Grothe erfuhr ich noch, dass er sich letztes Jahr einige Wochen freiwillig in der Psychiatrischen Klinik in Langenhagen aufgehalten hatte. Er lebte allein in einer Mietwohnung. Aktuell war er antriebsgesteigert und enthemmt. Es war davon auszugehen, dass er innerhalb kürzester Zeit erneut bei Philipp aufkreuzen und diesen körperlich attackieren würde. Das Kriterium der weiter bestehenden akuten Fremdgefährdung war damit erfüllt.
Diagnostisch ging ich von einer manischen Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung aus.
„Wären Sie bereit, sich wieder in Langenhagen stationär aufnehmen zu lassen?“, fragte ich ihn.
„Ich geh nicht wieder in die Klapse! Brauch ich nicht und will ich nicht mehr! Morgen beginne ich meinen eigenen Roman. Der handelt von bornierten Hetero-Schmierfinken!“
„Falls Sie sich zu keiner freiwilligen Aufnahme entschließen, würde ich einen Unterbringungsbeschluss anregen“, legte ich die Karten auf den Tisch.
Grothes Stimmung verschlechterte sich rapide.
„Ich lass mich von dir nicht in die Klapse wegsperren!“, schimpfte er und versuchte sich aufzurichten. Die Polizisten hinter ihm drückten ihn auf den Stuhl zurück.
Er begann, mir lautstark eine Serie von Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Für meine Entscheidung brauchte ich keine weiteren Informationen. Ich beendete das Gespräch, und der schimpfende Rainbow-Biker wurde von den Beamten in die Gewahrsamszelle zurückgebracht.
„Wir können jetzt aber nicht drei Stunden warten, bis ein richterlicher Unterbringungsbeschluss verfügt wird“, teilte Duensing mit. „Grothe noch drei Stunden in unserer Zelle, das hält keiner der Beteiligten aus.“
Dieser Auffassung schloss ich mich an. Bei sehr eiligen Notfallsituationen war es rechtlich möglich, dass anstelle eines Richters ein von der Kommune autorisierter Ordnungsbeamter die Zwangseinweisung bis zum Ende des Folgetages anordnen konnte, wenn ein in der Psychiatrie erfahrener Arzt die Notwendigkeit dafür bestätigt hatte. Und genau diesen Ordnungsbeamten rief ich jetzt an.
*
Der Ordnungsbeamte hatte nach einem kurzen persönlichen Gespräch mit Grothe dessen sofortige Einweisung in die Langenhagener Klinik verfügt. Zwei Polizeibeamte begleiteten den immer noch gefesselten Grothe zum Ausgang des Kommissariats. Ich ging vor ihm, mehrere Schritte voraus. Saskia hatte das Gebäude schon verlassen. Vorm Eingang führte eine Treppe mit vierzehn Stufen nach unten, wo der Rettungswagen parkte, der Grothe in die Klinik transportieren sollte. Im Rahmen der Amtshilfe würde die Polizei den Krankentransport bis zur Klinik begleiten. Ich stand gerade auf der obersten Stufe, als ich am unteren Ende der Treppe einen Mann sah, den ich neun Jahre nicht mehr persönlich gesehen hatte – Philipp Rathing.
Was will der denn hier?
Überrascht blieb ich stehen. Dafür, dass ihn gerade zu Hause ein enthemmter Maniker überfallen hatte, sah er erstaunlich frisch aus. Unter dem offenen Mantel trug er ein Sakko. Er machte den Eindruck, als hätte er noch was vor.
Dann passierte alles auf einmal. Ich hörte Grothe hinter mir schreien, der offenbar ebenfalls Philipp entdeckt hatte. Gleichzeitig erwischte mich ein Tritt am Gesäß, vermutlich von Grothe, der beim Anblick seines Widersachers vor Wut explodierte. Ich taumelte nach vorne, verlor das Gleichgewicht, stürzte, rollte einige Treppenstufen nach unten, bis ich endlich meinen Sturz abbremsen konnte.
„Rathing, du Abschaum, irgendwann erwischen wir dich!“, brüllte Grothe. „Du wirst Hannover sehen und sterben!“
Die Polizisten hatten ihn zu Fall gebracht, sodass er auf dem Boden kniete und nicht mehr um sich treten konnte.
Ich spürte Schmerzen in der Schulter, im Rücken und an der Schläfe. Dabei hatte meine Winterjacke noch einen gewissen Schutz dargestellt. Duensing und der Ordnungsbeamte halfen mir auf die Beine. Hätte nur noch gefehlt, dass ich wieder mit dem Fuß umgeknickt wäre. Dann kam Saskia dazu.
Ich hatte eine Schürfwunde an der rechten Schläfe und würde die nächste Zeit jede Menge blaue Flecken mit mir herumtragen.
Nachdem Grothe endgültig im Rettungswagen verschwunden war, kam mir Philipp auf der Treppe zum Kommissariat entgegen. In den letzten Jahren hatte er sich nur geringfügig verändert. Er hatte dunkelblonde Haare mit ausgeprägten Geheimratsecken, einige Falten um die Augen und einen minimalen Bauchansatz.
Immer darauf bedacht, im besten Licht dazustehen – so kenn ich ihn aus Schulzeiten.
„Hallo Mark, alter Kumpel. Tut mir total leid, dass du wegen mir eine verpasst bekommen hast“, sagte er und drückte fest meine Hand.
„Nicht deine Schuld. Ich hab für einen Moment nicht richtig aufgepasst … Und wie geht’s dir?“
„Der Angriff von Grothe belastet mich mehr, als man mir vielleicht ansieht.“ Sein anfängliches Lächeln verschwand und machte einem bedrückten Gesichtsausdruck Platz. „Ich bin hierhergefahren, um bei der Polizei meine Aussage von heute Morgen zu ergänzen. Im direkten persönlichen Gespräch hielt ich das für am besten.“
Eigentlich müsste er doch heute die Nase voll haben von Polizei und enthemmten Bikern. Dass er trotzdem sogar persönlich hier gleich wieder auftaucht, kommt mir merkwürdig vor.
Philipp hatte es eilig, und auch auf mich wartete der nächste Notfall.
„Könnte sein, dass ich mal deinen fachlichen Sachverstand für eines meiner nächsten Bücher brauche“, sagte er mit einem Augenzwinkern. „Hättest du eine Visitenkarte für mich?“
Ich tat ihm den Gefallen und wollte mich verabschieden, als mir unten vor der Treppe zum Kommissariat ein Mann in einer dunkelblauen Winterjacke auffiel. Auf Anhieb konnte ich ihn nicht zuordnen, aber ich kannte ihn von irgendwoher. Er guckte zu uns herauf, aber sein Interesse galt offensichtlich nicht mir, sondern Philipp.
*
Der Mann spürte eine Mischung aus Beklemmung und Ärger, machte sich große Sorgen um Peter Horand. Sein Gefühl sagte ihm, dass da etwas mit seinem Bekannten nicht stimmte. Als er vor der Haustür des mehrstöckigen Mietshauses stand und ein paarmal hintereinander klingelte, nahm seine Unruhe zu.
Nichts! Peter macht nicht auf.
Er klingelte bei Rosenhahn. Der war Rentner wie Peter und wohnte eine Etage unter ihm, gleichzeitig war er der Besitzer des Hauses. Zum Glück war Rosenhahn da und betätigte den Summer.
Er erzählte Rosenhahn kurz von seiner Besorgnis, ging dann einen Stock weiter, in die zweite Etage. Auf Klingeln und Klopfen erfolgte keine Reaktion. Aber als er sein Ohr an die geschlossene Wohnungstür legte, meinte er etwas zu hören. Sehr leise.
Das sind doch Stimmen?! Aber völlig monoton. Und immer das Gleiche. Was ist da los?
Das klang nicht nach Besuch. Das klang nach Fernseher, oder einer CD, die beim Abspielen an einer Stelle festhing. Aber was war mit Peter?
Der geht doch nicht raus, wenn drinnen der Fernseher läuft. Liegt er hilflos in der Wohnung?
Rosenhahn hatte als Vermieter für Peters Wohnung einen Schlüssel. Für den Notfall. Das war auf jeden Fall einer.
Er ließ Rosenhahn aufschließen. Was er dann zu sehen bekam, erschreckte ihn zutiefst. Peter hatte sich am Heizkörper im Wohnzimmer erhängt. Vorher hatte er offenbar seine Lieblingsplatte, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von den Beatles, aufgelegt.
Auf der zweiten Schallplattenseite war eine Endlosrille, in welche die Beatles als Gag ein Stimmengewirr hatten pressen lassen. Peters Plattenspieler besaß keine automatische Endabschaltung. Das Stimmengewirr wurde so lange abgespielt, bis der Tonarm manuell entfernt wurde. Peter war dazu nicht mehr in der Lage gewesen.
Rosenhahn verständigte die Polizei. Die fand einen handschriftlichen Abschiedsbrief und keine Hinweise auf Fremdeinwirkung.
*
Saskia und ich stiegen in mein Auto ein,