Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße
Читать онлайн книгу.Mann in der dunkelblauen Winterjacke war und was er womöglich von Philipp wollte. Ich musste mich um das Hilfeersuchen kümmern, von dem Saskia vorhin kurz berichtet hatte. Ein Mann mit Namen Horand war heute Morgen telefonisch nicht erreichbar gewesen.
Gerade wollten wir das weitere Vorgehen besprechen, da klingelte mein Diensthandy.
Ich nahm das Gespräch an, eine Polizeibeamtin meldete sich. Nach meinem Treppensturz folgte jetzt der nächste Tiefschlag. Die Polizistin teilte mit, dass sie wusste, dass die psychiatrische Notfallbereitschaft zu einem Herrn Horand im Stadtteil Sahlkamp gerufen worden war. Sie sei jetzt bei ihm vor Ort. Wir bräuchten nicht mehr zu kommen. Der Mann habe sich das Leben genommen.
Ach, du Scheiße! Heute kommt’s ja richtig dicke!
In der Wohnung des Toten wurden wir tatsächlich nicht mehr gebraucht. Wie meine telefonische Rücksprache mit Mockie ergab, war Peter Horand nie Patient in einer der Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes gewesen.
Schon kam der nächste Anruf.
Kein guter Tag für mich!
Am frühen Nachmittag trafen Saskia und ich wieder in unseren Büroräumen im Döhrener Timon Carré ein. Ich war völlig fertig, sah es aber als meine Aufgabe an, noch einmal den Bekannten von Peter Horand anzurufen. Ich wollte ihn fragen, wie er mit Horands Suizid zurechtkam und ob er Interesse an einem Gespräch mit mir hätte. Saskia beharrte darauf, sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern. Schließlich habe nur sie mit dem Mann gesprochen, daher wolle auch sie das Telefonat mit ihm führen.
Ich willigte ein (und war wirklich nicht unglücklich darüber, dieses Telefonat nicht führen zu müssen). Außerdem sagte ich mir, dass ich damit vermeiden wollte, dass Saskia den Eindruck bekam, ich könnte ihr das Ganze nicht zutrauen.
Kurz vor Dienstschluss informierte sie mich darüber, dass sie den Mann telefonisch erreicht hatte. Er hätte nachvollziehbar erklärt, dass er damit klarkäme und keine weitere Unterstützung von uns benötige.
Saskia legte eine elektronische Akte Peter Horand an und übernahm die kurze Dokumentation unserer Telefonate. Zuvor schon hatte ich erstmals Ralf Grothe bei uns aktenkundig gemacht.
Anschließend war Feierabend, und ich fuhr nach Hause, wo leider niemand auf mich wartete.
Kapitel 6
Heute war Samstag, der Tag nach meinem unerfreulichen Freitagsnotdienst.
Gleich frühmorgens machte ich mich auf den Weg zur Markthalle in der Innenstadt von Hannover. Meine Beweglichkeit war durch die schmerzhaften Prellungen, die ich gestern erlitten hatte, etwas beeinträchtigt. Trotzdem genoss ich ein Prosecco-Frühstück an einem italienischen Stand vor der breiten Fensterfront mit Blick auf den riesigen weihnachtlich geschmückten Tannenbaum neben dem Alten Rathaus, nahm bewusst das lebendige Treiben in den Gängen der Markthalle auf. Hier tobte das Leben, und ich hatte keinerlei dienstliche Verpflichtungen.
Vom Zeitschriftenstand hatte ich mir die heutige Ausgabe der täglich erscheinenden Boulevardzeitung TAGESBLATT Hannover besorgt. Auf dem Titel prangte als Überschrift: „Bestsellerautor P. R. in seinem Haus überfallen“. Daneben war ein Foto von ihm mit Mantel und Sakko vor dem Polizeikommissariat Misburg. Ein kleines Foto zeigte verpixelt einen knienden Mann, umringt von Polizisten – Ralf Grothe, nachdem er mir einen tückischen Tritt versetzt hatte. Im Innenteil der Zeitung ging der Artikel weiter. Dort war ein Archivfoto von Philipps Haus in Anderten zu sehen.
Jetzt fällt mir ein, wer der Typ in Dunkelblau vor dem Kommissariat war. Kleber, ein Reporter, der fürs TAGESBLATT arbeitet.
Ich hatte vor zwei Jahren kurz mit Kleber zu tun gehabt. Er wollte damals Informationen von mir zu einem Notfalleinsatz. Ich hatte ihm gesagt, dass er solche Informationen grundsätzlich nicht von mir bekommen würde.
Philipps Besuch der Polizeiwache war vorher mit Kleber genau abgesprochen.
Bestimmt hatte sich der Reporter von Fotos vor dem Kommissariat mehr versprochen, als wenn diese zum wiederholten Mal Philipp vor seinem Haus zeigten (wo der Überfall eigentlich stattgefunden hatte). Denn solche Fotos waren in den letzten Monaten schon mehrfach in den Zeitungen erschienen.
In dem Artikel wurde Philipp zitiert, dass der Angriff auf ihn seinem neuesten Roman galt, in welchem er Vorurteile gegen Homosexualität mit satirischen Stilmitteln der Lächerlichkeit preisgab. „Der Vorfall zeigt mir die Brisanz des Themas, über das wir ins Gespräch kommen sollten. Gerne kontrovers, aber nicht mit Gewalt.“ Es wurde berichtet, dass der Angreifer zusätzlich einen Arzt des Sozialpsychiatrischen Dienstes verletzt habe und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden sei. Die Namen von Grothe oder mir wurden nicht genannt.
So wie ich die Sache sehe, hat Philipp den gestrigen Vorfall gut als Publicity für sein aktuelles Buch genutzt. Und zwar ganz gezielt und durchdacht. Ein Fuchs war er schon immer, der seinem Kürzel P. R. alle Ehre macht.
Kapitel 7
25 Tage vor der Ermordung von P. R.
„Ich find es total lieb von dir, dass du Oma helfen willst“, sagte Luisa und streichelte Kilians Wange. Er hatte den grauen Renault Twingo direkt vor das Haus von Luisas Oma gefahren und den Motor abgestellt.
Der 21-jährige Kilian wandte Luisa den Kopf zu: „Ist doch kein Ding. Für die Oma meiner Lissi hab ich immer Zeit.“
Dabei grinste er seine drei Jahre jüngere Freundin an. Sie schnallte sich ab, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Seit letztem Herbst waren Kilian und Luisa befreundet. Sie ging noch zur Schule, machte im nächsten Jahr Abitur. Er befand sich im zweiten Ausbildungsjahr zum Mediengestalter Bild und Ton bei h1, dem Bürgerfernsehen für die Region Hannover.
Kilian war ein schlanker, sportlicher Typ von durchschnittlicher Größe mit kurzen braunen Haaren. Luisa dagegen war merklich kleiner, zierlich, trug einen Long Bob in Dunkelbond.
Es war Samstag, der 18. Februar, nachmittags. Das Haus von Luisas Oma stand in einer Reihe mit weiteren Einfamilienhäusern. Alle mit rotem Satteldach, kleinem Garten und mittelhohem Holzzaun.
Luisa klingelte. Es dauerte eine Weile, bis Frau Lübke, eine weißhaarige Frau Mitte achtzig, die Tür öffnete.
Luisa nahm ihre Oma in den Arm: „Ich habe Kilian mitgebracht. Er wird alles wieder in Ordnung bringen.“
„Ich krieg das hin“, bestätigte er. „Mit den Händen bin ich äußerst geschickt.“
Und Silikon-Spray hatte er auch mitgebracht.
Frau Lübke freute sich über die Besucher, war aber etwas aufgeregt, vermutlich weil sie nicht oft Besuch bekam. Sie bestand darauf, ihren beiden Gästen Kaffee und Kuchen anzubieten. Wobei der Kuchen ein alter Fertigkuchen von Bahlsen war.
Seit dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren wohnte Frau Lübke allein in dem Haus. Sie wollte keine Putzfrau, keinen Pflegedienst und kein Essen auf Rädern. Und sie wollte auf keinen Fall in ein Altersheim. Ihren Sohn und ihre Schwiegertochter bat sie selten um Hilfe („die haben selbst genug zu tun“). Aber mit manchen Dingen des Alltags, wie Instandhaltung des Hauses und Gartenpflege, war sie zuletzt überfordert. „Manchmal ist es schon grenzwertig, wie Oma lebt“, hatte Luisa einmal zu Kilian gesagt.
Die aktuellen Probleme von Frau Lübke waren für Kilian Kleinigkeiten. Der Haustürschlüssel ging schwer ins Schloss, im Bad mussten zwei Glühbirnen der Deckenlampe ausgewechselt werden, und der Receiver fürs Antennenfernsehen war verstellt.
Scheiße, hab echt ein schlechtes Gewissen bei dem, was ich jetzt vorhabe, schoss Kilian durch den Kopf. Und Lissi und die Oma ahnen nicht das Geringste.
Luisa hatte gesehen, dass in der Spüle noch Geschirr stand. Der Geschirrspüler war defekt. Den bekam Kilian nicht wieder hin. Seine Freundin half ihrer Oma unten in der Küche beim Abwasch, während er mit Glühbirnen, Klapptritt und Schraubendreher bewaffnet ins erste Stockwerk ging, um sich der Deckenlampe im Bad zu widmen. In seiner Hosentasche versteckte er ein Paar Latexhandschuhe.
Zunehmend