Zersplittert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.halte das Schloss in meiner kleinen Hand und nehme es zum Schlafen mit ins Zimmer. Es steht neben meinem Nachttisch, als Daddy mir einen Gutenachtkuss gibt.
Langsam wache ich auf und fühle mich glücklich und geborgen. Ich öffne die Augen. Der Turm ist verschwunden. Ich schrecke hoch und das Zimmer wird wieder zu Kylas Zimmer, nicht Lucys.
Wieso kann ich mich daran noch erinnern? Es hätte wie alles aus Lucys Leben gelöscht werden sollen, so wie Nico gesagt hat. Obwohl ich schon öfter von Lucy geträumt habe, bin ich diesmal vollkommen durcheinander. So real war noch kein Traum. Nie war ich bei ihr zu Hause, wo sie in Sicherheit und glücklich war.
Bevor mir die Erinnerung wieder entgleitet, stehe ich taumelnd auf und schalte das Licht ein, schnappe mir Block und Stifte und versuche immer wieder, das Gesicht von Lucys Vater zu zeichnen, um mich daran festzuhalten.
Aber er ist weg. Es gelingt mir nicht. Nur ein vages, unsicheres Gefühl für Größe und Proportionen ist noch da. Keine Details, keine Gesichtszüge.
Ich gebe das hoffnungslose Vorhaben auf, Lucys Vater zu malen. Meinen Vater. Stattdessen zeichne ich Ben. Jetzt, wo Bens Eltern verschwunden sind, gibt es niemanden mehr, der sich an ihn erinnert und um ihn trauert. Ich werde mir jeden Tag sein Bild anschauen. So werde ich ihn nie vergessen.
Und es gibt noch etwas anderes, das ich tun kann – Lucy hat mich darauf gebracht.
Eine letzte Chance, eine letzte Möglichkeit, um herauszufinden, was wirklich mit Ben passiert ist: MIA.
»Willst du nicht mit Cameron gehen?«, feixt Amy grinsend. »Er ist ganz süß, findest du nicht?«
»Nein! Ich meine, nein, ich will nicht mit ihm gehen.«
»Dann findest du ihn also auch süß?«
Ich verdrehe die Augen und setze mich auf Jazz’ Rücksitz.
Ich habe ihnen gestern gesagt, dass sie nicht auf mich warten müssen, weil Cam mich nach Hause bringt. Mum wusste nichts davon und wäre wahrscheinlich nicht einverstanden gewesen. Weniger wegen Cam, sondern weil sie nicht will, dass Amy und Jazz allein sind. Ich bin ihr Anstandswauwau. Aber das habe ich Cam bereits erklärt, damit er nicht auf den Gedanken kommt, dass er jetzt mein regelmäßiger Chauffeur sein wird. Ganz besonders heute, wo ich eigene Pläne habe und er auf keinen Fall dabei sein soll.
Während der Fahrt frage ich Jazz: »Meinst du, wir könnten heute nach der Schule Mac besuchen?«
»Klar«, antwortet er. Mac ist Jazz’ Cousin. In seinem Hinterzimmer steht ein illegaler Computer, über den ich auf der Webseite von MIA Lucy entdeckt habe. Werde ich hier auch Ben finden?
Amy erzählt uns unterwegs den neuesten Tratsch aus der Arztpraxis. Ich klinke mich aus, aber dann erregt etwas meine Aufmerksamkeit.
»Amy, was hast du gerade gesagt?«, hake ich nach, denn ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich richtig gehört habe.
»Du weißt schon, der Mann, von dem ich euch neulich erzählt habe, der zusammengeschlagen wurde und im Koma liegt. Er ist gestern im Krankenhaus aufgewacht.«
Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.
Versuch, beiläufig zu klingen.
»Hat er gesagt, was passiert ist?«
»Er war ganz schön neben der Spur, meinte meine Kollegin, deren Freundin im Krankenhaus arbeitet. Möglicherweise hat er durch die Kopfverletzung das Gedächtnis verloren. Die Lorder sind in die Klinik gekommen und wollten mit ihm sprechen, haben es dann aber gelassen, weil nichts Vernünftiges aus ihm rauszubekommen war.«
Erzähl es Nico!
Und dann? Zunächst wird er ausflippen, weil er erst jetzt davon erfährt. Anschließend nimmt er mich auseinander, weil ich ihm nicht gleich gesagt hatte, dass Wayne meine Erinnerungen zurückgebracht hat. Wayne ist ein Risiko. Wenn er auspackt, holen die Lorder mich. Nico wird sich um ihn kümmern. Und ›sich um ihn kümmern‹ bedeutet Tod. Mich knöpft er sich danach vor.
Besser, ich sage ihm nichts.
Mein Bauchgefühl warnt mich vor dieser Entscheidung. Aber wir warten ab und werden sehen. Vielleicht erinnert sich Wayne an gar nichts mehr.
Vielleicht aber doch.
An diesem Nachmittag findet in der Aula die große Versammlung statt. Alle gehen ruhig zu ihren Plätzen, und es ist so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Ganz vorn befindet sich der Grund dafür: die Lorder.
Bei ihrem Anblick bekomme ich eine Gänsehaut.
Starr sie nicht an!
Diese Lorder kenne ich, Agent Coulson und sein Untergebener. Coulsons kalte Augen schweifen durch den Raum, und mir gelingt es nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Was macht er bloß hier?
Coulson ist kein stinknormaler Lorder. Das wurde mir spätestens dann klar, als er zu uns nach Hause kam, um mich wegen Bens Verschwinden zu befragen. Zu Mum schicken die nämlich nicht irgendjemanden, denn sie ist die Tochter des ehemaligen Premierministers, Wam the Man, der zusammen mit seiner Frau bei einem Anschlag von Free UK getötet wurde. Mum hat zwar nichts mit der heutigen Politik zu tun und nutzt ihre Beziehungen meines Wissens auch nicht aus, trotzdem können sich die Lorder bei ihr keinen Fehler leisten. Wenn Mum nicht wäre, hätten die mich sicher nicht so sanft verhört.
Coulson verströmt Macht. Dabei ist er kein einfacher Schläger, auch wenn er bei der passenden Gelegenheit sicher vor nichts zurückschreckt. Alles an ihm ist kalte Berechnung.
Unsere Blicke begegnen sich. Winzige Schweißtropfen treten mir auf die Stirn.
Sieh weg!
Ich wende den Blick ab und widerstehe dem Impuls nachzusehen, ob er immer noch zu mir herschaut.
Er ist auch bloß ein Mensch. Ein fieser obendrein.
Selbst in seinen Adern fließt nur rotes Blut und er blutet wie jeder andere. Und das sollte er!
Die Versammlung beginnt. Der Direktor redet wieder endlos über die Leistungen der Schüler und lässt die üblichen Warnungen einfließen. Er fordert uns auf, unser Potenzial voll auszuschöpfen … usw …
Aber ich bin in Gedanken woanders.
In meiner Fantasie ist es Coulson, der Bens zuckenden Körper von seiner Mutter fortzerrt.
Coulson, der das brennende Streichholz auf Bens Haus wirft.
Coulson, der Lucy aus ihrer Familie reißt.
Wut steigt in mir auf, siedend heiße Wut. Nach außen gebe ich mich ruhig und aufmerksam, doch in meinem Inneren sieht es anders aus.
Wenn ich jetzt, in diesem Augenblick, eine Pistole in der Hand hätte, könnte ich sie auf Coulson richten und ihn erschießen. Er hätte es verdient. Wie alle Lorder.
Der harte Sitz unter mir, das Geschwätz des Direktors und der Saal voller aufmerksamer Schüler verschwinden. Meine Hand umklammert kaltes Metall, meine Augen fokussieren, nehmen Maß, dann drückt mein Zeigefinger den Abzug. Eine Explosion, dann der Rückschlag der Pistole in meiner Hand. Die Kugel fliegt durch den Raum, viel zu schnell, als dass normale Augen ihr folgen könnten, aber meine sehen, wie sie sich zu ihrem Ziel vorarbeitet.
Die Kugel trifft ihn in die Brust. Sein Herz explodiert und eine rote Welle Blut strömt hervor. Er geht zu Boden.
Ich lächle und bemerke dann, dass die Versammlung vorbei ist; alle verlassen den Raum. Ich bin aufgestanden und ihnen gefolgt, ohne dass es mir aufgefallen wäre. Cam hat sich aus seiner Tutorengruppe ein wenig zurückfallen lassen und geht neben mir. Er muss mich für völlig verrückt halten, weil ich lächle, hier und jetzt.
Bin ich auch.
Der Fluch, falls es einen gegeben hat, ist vorbei. Wir gehen auf die Türen des Saals zu, wo der andere Lorder steht und den Schülern dabei zusieht, wie sie hinauslaufen,