Zersplittert. Teri Terry
Читать онлайн книгу.kenne. Das Mädchen ist vielleicht 14 und grinst wie eine Irre – ganz offensichtlich ein neuer Slater. Am Anfang sind alle so, voller Freude, dass die Lorder ihnen die Erinnerungen und ihre Vergangenheit genommen haben und dass sie – ganz egal, welches Verbrechen sie auch begangen haben – jetzt eine zweite Chance auf ein neues Leben kriegen. Ich war genauso, allerdings etwas zurückhaltender. Waren es Rains verborgene Erinnerungen, die mich immer schon von den anderen unterschieden haben?
Die übrigen neun in der Gruppe sind dieselben geblieben. Tori und Ben fehlen. Und ich muss mich gar nicht groß verstellen, nur Kyla zu sein. Hier, an diesem Ort, bin ich sie. Rain gehört nicht hierher.
Wir stellen unsere Stühle im Kreis auf und es geht los.
Penny steht vorn. »Guten Abend alle miteinander!«
Wir sehen uns an und zögern. »Guten Abend«, sagen ein paar einzelne Stimmen weiter hinten und der Rest fällt mit ein.
»Heute möchte ich Angela begrüßen. Sie ist neu in unserer Gruppe. Und was kommt jetzt?«
Sie blickt in die Runde, und ich stöhne innerlich auf, weil ich an meinen ersten Tag hier denken muss. Damals war es Tori, die die Augen verdreht und voller Sarkasmus verkündet hat, dass sich nun alle vorstellen müssten. Und dann kam Ben, verspätet.
Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er in Shorts und Sweatshirt durch die Tür stürmt. Das Shirt schweißnass vom Laufen. Er ist immer gelaufen. Ich seufze.
»Kyla?«
Besorgt kommt Penny zu mir. »Alles in Ordnung, Liebes?«
»Tut mir leid, mir ist nur gerade schwindelig geworden.« Sie schaut auf mein Level und zieht eine Augenbraue hoch, als sie sieht, dass ein Wert von 5,8 angezeigt wird.
Ich muss mich zusammenreißen. Ich darf weder zu auffällig lächeln noch in Trauer versinken. Ausgeglichen bleiben. So wie alle Slater, obwohl es für mich nicht mehr dasselbe ist.
Penny lächelt dem neuen Mädchen zu, dessen Grinsen inzwischen noch breiter geworden ist. Sie sieht so happy aus, dass sie sicher nicht Gefahr läuft, ohnmächtig zu werden, wie es mir manchmal passiert ist. Auch alle anderen in der Gruppe sehen zu glücklich aus. Glücklich darüber, dass die Lorder sie geschnappt und davon abgehalten haben, das zu tun oder zu sagen, was nicht erlaubt ist.
Ich sehe mir die freudestrahlenden Gesichter an. Waren manche von ihnen echte Kriminelle? Mörder oder Terroristen wie ich? Ist es ihnen überhaupt wichtig zu wissen, wer sie einmal waren? Wenn mein Slating normal verlaufen wäre, würde ich jetzt mit ihnen um die Wette grinsen.
Auch ich wäre glücklich.
Ich fahre hoch, als eine warme Hand meine Schulter drückt. »Kannst du meine Frage beantworten?«, zwitschert Penny.
»Äh …«
»Warum sind wir hier?«
»Es ist unsere zweite Chance?«
»Genau, Kyla.«
Ich bekomme tatsächlich eine zweite Chance – aber nicht die, von der sie spricht. Sie weiß nicht, dass ich zurück bin, dass die Lorder versagt haben. Dass mein Slating misslungen ist.
Penny wendet sich wieder der Gruppe zu und teilt uns mit, dass wir heute ein paar Spiele machen werden. Sie öffnet eine Kiste und holt ein Damespiel, Karten und andere Brettspiele heraus. Wir sind elf Leute, und damit es aufgeht, muss ich mit Penny spielen. Will sie mich immer noch im Auge behalten?
»Kennst du eins von denen?«, fragt sie mich und ich schaue mir die Spiele in der Kiste an.
»Die meisten. Ich mag Schach. Ich habe es immer spätnachts im Krankenhaus gespielt. Einer der Wachmänner hat es mir beigebracht.«
Penny holt das Schachspiel heraus und reicht es mir, damit ich alles aufbaue, während sie sich um die anderen kümmert. Das Holzkästchen ist mit Intarsien verziert, die eine Hälfte der Spielfiguren besteht aus hellem, die andere Hälfte aus dunklem Holz. Ich nehme sie heraus und stelle sie auf dem Brett auf. Die Türme in die Ecken, dann die Springer, die Läufer, den König und die Königin. Davor werden die Bauern aufgereiht, die als entbehrlich gelten. Aber mit der richtigen Strategie kann ein Bauer das Spiel entscheiden.
Penny kehrt zurück und nimmt sich einen Stuhl, damit wir beginnen können.
Meine Hand schwebt über einem Turm, bevor ich ihn nehme. Ein Schloss, sagt mir eine innere Stimme. Du hast ihn Schloss genannt.
Nein. Ich runzle die Stirn. Der Wachmann, der auf mich aufpassen musste, wenn ich Albträume hatte, hat mir das Spiel aus lauter Langeweile beigebracht. Er hat mir die richtigen Namen für jeden Stein genannt und die Züge erklärt und war überrascht, wie schnell ich das Schachspielen gelernt habe. Bis zu meiner Entlassung habe ich sogar ein paar Mal gegen ihn gewonnen.
»Kyla?« Penny sieht mich neugierig an.
Ich gebe mir einen Ruck und stelle die Spielfigur wieder an ihren Platz. Wir beginnen.
»Alles okay?«, fragt Mum.
»Ja, war in Ordnung.« Sie sieht mich immer noch an und will mehr von der Gruppe wissen. »Wir haben Schach gespielt, Penny und ich.«
»Wer hat gewonnen?«
»Sie.«
Ich habe nicht besonders gut gespielt. Sobald ich eine der Figuren berührt habe, überkam mich ein seltsames Gefühl. Irgendwie vertraut. Ständig hatte ich das Bedürfnis, die Figuren in die Hand zu nehmen, über die Ecken und abgerundeten Kanten zu fahren, um ihre Form zu ertasten.
Ich täusche ein Gähnen vor. »Ich bin müde. Ich leg mich hin.« Oben in meinem Zimmer komme ich nicht zur Ruhe.
Ich habe eine zweite Chance bekommen, aber nicht wie von den Lordern gedacht. Eine zweite Chance mit Free UK, um gegen die Lorder zu kämpfen.
Wie hat mein früheres Leben bei Free UK ausgesehen? Mir will einfach nichts dazu einfallen. Es tauchen nur zufällig Bruchstücke aus der Vergangenheit auf. Ich versuche, mich zu entspannen, meinen Geist treiben zu lassen. Das Ausbildungslager habe ich vor Augen, aber sonst nichts. War ich bei Angriffen dabei? Muss ich ja wohl, sonst hätten mich die Lorder nicht erwischt. Allerdings habe ich keine konkrete Erinnerung daran.
Hartnäckig drängt sich Nicos Gesicht in mein Bewusstsein. In seiner Gegenwart heute konnte ich kaum klar denken, wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Ich war völlig willenlos.
Ich schüttle verwirrt den Kopf. Nein, so war es doch gar nicht. Auch ich wollte es so.
Aber heute Abend beim Schach habe ich mich mehr wie ich selbst gefühlt, wer auch immer das ist. Wie in meiner eigenen Haut, nicht in der einer Fremden. Als hätte ein Turm in meiner Hand dafür gesorgt, dass sich alles langsam in mir einpendelt.
Ich konzentriere mich auf das Brett, die geschnitzten Figuren auf ihren Quadraten und kaue auf der Lippe. Mit jedem Zug würde ich eine Figur verlieren. Viele habe ich nicht mehr übrig. Ich strecke die Hand aus, ziehe sie dann allerdings wieder zurück.
»Ich weiß nicht weiter«, gebe ich schließlich zu.
»Brauchst du einen Tipp?«
Ich lasse meine Hand von einer Figur zur nächsten wandern und beobachte ihn dabei.
Er zwinkert, als ich das Schloss neben dem König berühre. Aber ich kann keinen sinnvollen Zug machen, denn es gibt nur ein paar leere Felder zwischen ihm und dem König. Der König steht frei und wird bald angegriffen werden. Außer …
»Was ist das Besondere am Schloss?«, frage ich.
»Eigentlich heißt es Turm, Lucy.«
»Es sieht wie ein Schloss aus!«
»Ja, das stimmt.« Er lächelt. »Es kann sich neben den König setzen. Und dann mit ihm den Platz tauschen.«
»Jetzt weiß ich’s wieder!« Ich mache es so, wie er gesagt hat, und mein König ist wieder sicher.
Das Spiel geht