Zersplittert. Teri Terry

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Zersplittert - Teri Terry


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wie Nico und Tori heute Abend bei einem gemütlichen Essen sitzen, im Schein der Kerzen, die ich auf dem Tisch gesehen habe, und mit einer offenen Flasche Wein.

      Nico grinst, als würde er haargenau wissen, was ich denke, ein Lächeln, das bedeutet: selbst schuld.

      Ich werde rot. Als er auf den Stuhl neben seinem Tisch zeigt, setze ich mich.

      »Mir ist letzte Nacht etwas aufgefallen«, sagt er und nimmt auf dem anderen Stuhl Platz, den er sehr nah vor meinen zieht. Mein Blick ist fest auf seinen gerichtet. Auf die langen Wimpern, die zu dunkel scheinen für seine hellblaue Iris. Die Locke, die ihm in die Stirn fällt und die ich ihm am liebsten zurückstreichen würde.

      Ich schlucke. »Was denn?«

      Er beugt sich vor. »Rain ist zurück«, haucht er mir ins Ohr und mein ganzer Körper beginnt zu prickeln.

      Er lächelt und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, ein kleiner Schulhocker, der unter ihm lächerlich wirkt. »Sie ist wirklich wieder da. Ich war mir nicht sicher, wie viel von ihr in dir steckt. Aber was du letzte Nacht getan hast, das war sie, oder? Dich in der Nacht rauszuschleichen. Kyla hätte das nicht getan.«

      »Nein, das hätte sie nicht«, sage ich, und mir wird klar, dass er recht hat. Ich habe mich verändert, ziemlich sogar. Ich bin immer noch dabei, mich zu verändern.

      »Aber irgendetwas stimmt noch nicht so ganz.«

      »Was denn?«, frage ich. »Ich werde daran arbeiten.«

      »Wirst du das?« Er lächelt. »Diese ganze Tori-Geschichte. Die Rain, die ich kannte, hätte nicht riskiert, dass Free UK wegen eines einzelnen Mädchens auffliegt. Sie hätte einen Weg gefunden, damit umzugehen. Und dann gäbe es keine Tori und kein Problem mehr.«

      Die Sicherheit der Gruppe steht an allererster Stelle: Die Aufmerksamkeit der Lorder zu erregen, muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vermieden werden. Aber könnte sie – ich – Tori wirklich einfach so den Hals umdrehen? Oder ihr den Schädel einschlagen? Ich stelle mir vor, wie Toris Gesicht gegen den Baum prallt, und zucke zusammen. Nein. Das hätte ich niemals tun können. Oder doch? Ich hätte es beinahe getan – ich habe mich nur gebremst, weil ich sie erkannt habe. Bei diesem Gedanken flackern Erinnerungen an Gewehre, Schreie und Blut auf, die besagen ja, Rain hätte alles tun können. Dabei mag ich Tori noch nicht mal, warum habe ich ihr also geholfen?

      »Sag mir, was du denkst«, fordert mich Nico in einem Ton auf, vor dem es kein Entrinnen gibt.

      Ich versuche es. »Meine Gedanken kämpfen miteinander. Als wären da zwei Stimmen in meinem Kopf, die einen unterschiedlichen Blick auf die Geschehnisse haben.«

      Er nickt nachdenklich.

      »Bitte erklär mir, was mit mir passiert ist«, bettle ich. »Ich verstehe es nicht.«

      Er zögert, dann lächelt er. »Erst muss ich dich noch ein paar Sachen fragen. Aber ich werde es dir erklären. Manchmal bist du mehr Kyla und manchmal mehr Rain. Das ist logisch, weil sich alles neu ordnet. Mit der Zeit wird Rain wieder übernehmen, sie ist die Stärkere.«

      Ungewollt steigt ein Bild vor meinen Augen hoch: Lucy mit blutigen Fingern. Und Nico … mit einem Ziegel in der Hand.

      Ich keuche und strecke verwundert meine linke Hand aus, dann drehe und wende ich sie. »Hast du das getan? Um aus mir eine Rechtshänderin zu machen?«

      »Was getan?«

      »Meine Finger verletzt.« Ich zögere. »Lucys Finger.«

      Sein Blick schweift ab, er sieht weg. Stille folgt, einen Herzschlag lang, dann zwei. Er blickt mich wieder an: »Erinnerst du dich daran, Lucy zu sein?«

      »Nein. Nicht wirklich, nur ab und zu in Träumen und sie ergeben keinen Sinn. Bitte, Nico, in meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander. Was ist mit Lucy passiert?« Was ist mit meinem zehn Jahre alten Ich passiert?

      Er zögert, denkt nach und nickt dann. »Okay. Du warst für mich etwas Besonderes, Rain. Aber wenn man auf der Seite der Freiheit steht, läuft man immer Gefahr, geschnappt zu werden. Ich wusste, dass ich einen Weg finden musste, um dich zu schützen, falls du den Lordern in die Hände fällst.«

      »Wie denn?«

      »Indem ich dich innerlich in zwei Teile aufgespaltet habe, damit einer überleben kann, falls du geslated wirst. Rain war stärker als Lucy, also hat sie überlebt.«

      Und ich weiß sofort, was er meint. Ich habe es immer gewusst. Ich wurde zu zwei Personen, Lucy mit den Kindheitserinnerungen und Rain, deren Leben Nico und Free UK gehört hat. Allmählich fügen sich die Puzzleteile zusammen. Lucy wurde dazu gezwungen, Rechtshänderin zu sein. Als sie sich weigerte, hat Nico Gewalt angewendet. Rain dagegen war Linkshänderin. Wie geslated wird, hängt davon ab, ob jemand Rechts- oder Linkshänder ist, denn mit der Händigkeit ist auch verbunden, welche Gehirnhälfte dominiert. Aber wer war ich, als ich geslated wurde?

      »Ich verstehe es immer noch nicht. Wenn Rain stärker war und die Kontrolle über mich besaß, warum haben die Lorder mich dann nicht als Rain geslated, also so, als wäre ich Linkshänderin?«

      »Das ist das Schöne daran. Rain hat sich im Inneren versteckt, als du gefasst wurdest, darauf warst du konditioniert. Also war Lucy dominant.«

      »Das heißt, die Lorder haben mich für eine Rechtshänderin gehalten. Von Rain wussten sie nicht. Als sie mir meine Erinnerungen genommen haben, haben sie nur einen Teil von mir erwischt.«

      »Genau. Lucy ist weg, denn sie war schwach. Aber du, Rain, hast das Slating überlebt. Und nur auf den richtigen Augenblick gewartet, um dir einen Weg nach draußen zu bahnen.«

      »Und das hier«, sage ich und drehe an meinem Levo, »funktioniert nicht mehr, weil ich wieder Rain bin – eine Linkshänderin. Es ist mit der falschen Seite meines Gehirns verknüpft.«

      »Haargenau.« Er nimmt meine linke Hand in seine und küsst ganz sanft meine Fingerspitzen. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich dir vor vielen Jahren so wehgetan habe. Aber es war die einzige Möglichkeit, dich zu schützen.«

      Lucy ist für immer verschwunden. Deshalb kann ich mich nicht mehr an ihr Leben erinnern. Der Schmerz des Verlustes erfüllt mich und breitet sich in mir aus. Ein Großteil meines Lebens wurde zerstört und ist für immer verloren. Dafür ist ein anderer Teil von mir noch da: Nico hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich komplett verschwunden. Wüsste nicht einmal, dass ich alles verloren hatte.

      »Danke«, flüstere ich. Und ich frage mich, ob Rain auch Kyla verdrängen wird. All ihre Hoffnungen und alles, was sie geliebt hat? Wie Ben? Ich kämpfe mit den Tränen. Nicht weinen. Nicht vor Nico. Bitte nicht! Angst und Schmerz ringen miteinander, denn Nico mag keine Schwäche.

      Doch anstatt wütend zu werden, nimmt er meine Hand. »Was ist?«, fragt er sanft.

      Ich umklammere seine Hand. Sie ist viel größer und stärker als meine, die er zerdrücken könnte.

      »Ben«, flüstere ich.

      »Erzähl mir von ihm. Ich weiß ein wenig, aber was ist wirklich mit ihm passiert?« Er betont wirklich, als wüsste er, dass es mehr als die offizielle Version gibt.

      »Es war alles meine Schuld. Ich habe es getan.« Endlich spreche ich laut aus, was mich quält und mir auf der Seele brennt.

      »Was hast du getan? Sag es mir.«

      »Ich habe sein Levo abgeschnitten. Mit einer Flex.«

      Und während ich ihm alles beichte, schiebt Nico seinen Stuhl neben meinen und legt mir den Arm um die Schultern. Bilder tauchen vor mir auf: Bens Todeskampf, wie ich wegrenne und ihn seinem Schicksal überlasse. Und wie sieht dieses Schicksal aus? Was ist aus ihm geworden? Habe ich seinen Tod verursacht oder ist er später durch die Lorder gestorben?

      »Was ist mit ihm passiert?«, frage ich und meine Augen betteln um ein wenig Hoffnung.

      »Du kennst doch die Antwort«, sagt Nico. »Du weißt, was die Lorder mit ihm gemacht haben, wenn er noch gelebt hat.«


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