Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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die Junggesellen des Hauses gestoßen waren, der Wortführer, der Hausweise, der Beständige Gast. Ich bemerkte, daß ihre Schlittschuhe auf ziemlich hohen Kothurnen aufgeschnallt waren, wie man sie außerhalb des Hauses zu tragen pflegte. Schwarzgewandet war allein der Bräutigam. Die andern hatten ihre verwischte Nacktheit in Schleier von verschiedenen, aber immer fahlen Farben gehüllt. B.H. in Feldgrau und ich im Frack bildeten die Nachhut. Wie ich aber so dahinschoß, konnte ich es nicht verhindern, daß sich meiner Brust ein kindischer Ruf der Lebensfreude entrang, ein Laut ganz ungehörig für eine Materialisation meines Alters, die man nur durch Zufall aus dem Alphabet gestochen und hierher zitiert hatte. Und doch, es war eine ganz verteufelte Freude, diese verwandelte und verbesserte Erdenwelt nach so langer Absenz wieder einmal flüchtig durchfliegen zu dürfen. B.H., der Schuldige, schien das einzusehn, denn er lächelte nachsichtig zu meinem Jubelruf.

      Es dürfte wohl meinen schwachen Augen zuzuschreiben sein, daß ich mich plötzlich und unversehens in einer sehr großen Menschenmenge befand, die inmitten der zentralen Plaza um einen großen, abgegitterten Kreis hin und wider wogte. Mein Herz begann noch schneller zu klopfen als vor einigen Stunden, da ich in einem dunklen Korridor auf das Zeichen gewartet hatte, das mich in ein traulich erleuchtetes Zimmer rief, um meinen neuen Freunden zu erscheinen. An das Haus der Hochzeiter hatte ich mich schon gewöhnt; die Herren und Damen dieses Hauses flößten mir keine größere Angst und Schüchternheit ein als fremde Leute sonst es zu tun pflegten, denen ich einen Besuch abstatten mußte. Jetzt hatte ich sogar die größte Furcht, ganz zu schweigen natürlich von B.H., den lieben Herrn Io-Solip, den Wortführer, den Hausweisen, den Beständigen Gast und sogar den Fiancé aus den Augen zu verlieren, das Fähnlein derer mithin, die zum Hause gehörten, wo ich relativ bereits daheim war. Denn es muß gesagt werden, ich zitterte unter meinem Abendanzug am ganzen Körper vor dieser Menge, vor diesen vielhundert Unbekannten, als hätte mein wiedererstandenes Physikum kaum die Kraft, die dichtgedrängte Nähe und Gegenwart derjenigen zu ertragen, welche von ihm in Wirklichkeit viele, viele Jahrtausende in der Zeit und viele, viele Lichtjahre im Raum entfernt waren. Ich bitte den geneigten Leser, das voll auszudenken, damit er mich meines Zitterns und Zähneklapperns wegen nicht verachte, das mich gerade angesichts dieser Menschenmenge erfaßte, das heißt angesichts Tausender von unsäglich zukünftigen Existenzen. Das Unbehagen meiner Sinne — ich möchte es ein „historisches Unbehagen“ nennen — war so groß, daß ich die Menschen einzelweise nicht unterschied und mich wieder einmal der Aufgabe eines Berichterstatters unwürdig erwies, indem ich zwar mein eigenes Zittern und Zähneklappern, nicht aber das objektive Bild der Menge darstellen kann, wenn ich nicht zur bloßen Phantasie Zuflucht nehmen will. Diese Menschenmenge war ein rhythmisches Sein, ein Rauschen, ein Tanzen, ein Drehn und Wirbeln, ein durcheinanderbewegtes Gewebe, bestickt mit zwitschernd wohllautenden Stimmen, silbernen, mattgoldenen, hellblauen, hellgrünen . . . Wie aber wuchs erst mein Unbehagen, als jäh die Menge vor mir zurückwich, und ich, verlegen auf meinen Schlittschuhen den Ort tretend, mitten in einer ehrfürchtig ausgesparten Leere mich einsam wesen fand. Natürlich der Wortführer war’s, der den Mund nicht hatte halten können, was ja schließlich auch nicht seines Amtes war. Zuerst hatten die Umstehenden von ihm vernommen, welch eine Erscheinung da in ihre hochgestimmte und hochentwickelte Welt hineingeschneit kam. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer, um eine Metapher zu gebrauchen, die wahrhaftig aus den Anfängen der Menschheit stammt. Mir aber brach abermals der Schweiß aus den Poren, denn alles starrte mich mit neugiergroßen Augen an. Mir blieb nichts andres übrig, als mich an B.H.s Arm ängstlich anzuhalten.

      „Es ist ein freundliches Volk“, beruhigte mich der Wiedergeborene, „sie werden dich nicht belästigen. Kümmere dich weiter nicht um sie. Lächle ihnen nur fleißig zu, wobei du am besten die Zähne entblößt.“

      Er stützte mich brüderlich, und wir glitten gemeinsam auf den abgegitterten Zirkel zu, der jetzt plötzlich freigegeben war. Bräutigam Io-Do, Herr Io-Solip und die drei Junggesellen schlossen sich uns an; der weite Chor des Volkes folgte in ehrfürchtig neugierigem Abstand. Ich wendete mich um, B.H.s Rat befolgend, und lächelte der schattenhaften Menschenmauer mit einem forcierten Schauspielerlächeln zu, das mir selbst schlecht schmeckte, wobei ich kurz die Zähne entblößte. Wie schämte ich mich dieses Lächelns. Es schien aber seine Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn die dunkle Menschenmauer antwortete mit einem leisen Sympathiegemurmel. Ich hatte schon lange begriffen, daß man sich in diesem Zeitalter immer und überall angenehm machen mußte, um weiterzukommen. Dieses Kalfaktern verpflichtete weiter zu nichts. Es war grund- und zwecklose Liebenswürdigkeit, gute Manier, freundliche Kultur, es war die unbewußte Abbitte für viele dunkle Weltalter, in denen der Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sie dem Feinde entgegenzufletschen, und auch für andre, spätere, doch nicht minder dunkle Weltalter, wo der photogene Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sich selbst als Ware anzubieten.

      Ich hielt mich nun mit beiden Händen an dem schmiedeeisernen Gitter fest und sah hinab in eine sehr große kreisrunde Aushöhlung, die den Eindruck eines alten, längst aufgelassenen Bergwerks erweckte, von dem die oberste Tagbauschicht intakt geblieben war, während die Stollen in der Tiefe zusammengestürzt oder ersoffen sein mußten. Der Eindruck des Bergwerkes wurde auch noch dadurch betont, daß die Wände der durchaus nicht sehr tiefen Aushöhlung mit schimmernden Mineraladern und glimmernden Kristalldrusen durchwachsen und besteckt zu sein schienen. Trotz meiner schwachen Augen glaubte ich, Amethyste, Topase und Bergkristalle unterscheiden zu können. Heute aber, nach meiner Rückkehr, dünkt es mich, als hätte ich nicht nur Halbedelsteine, sondern auch fabelartige Rubine und Saphire aus dem Dunkel leuchten sehen. Das hätte aber sehr wenig bedeutet, denn die Menschen jener Gegenwart verehrten weder das Gold, das seinen Wert als Gradmesser verloren hatte, noch auch würden sie den geringsten Unterschied gemacht haben zwischen schönfarbigem Glasfluß und echtem Edelstein. In dieser Hinsicht waren sie wieder so primitiv und unschuldig geworden wie die nackten Eingeborenen einer Südseeinsel, die den billigsten Glastand jedem echten Schmuck vorziehen.

      „Dieses ist das Denkmal des Letzten Krieges“, sagte jemand in meiner Umgebung, und ich bemühte mich, in der weiten Aushöhlung inner- und unterhalb des Gitters irgend etwas zu erblicken, das einem Reiterstandbild oder einer heroisch muskelgeschwellten Gestaltengruppe à la Rodin ähnlich sah. Nichts dergleichen konnte ich entdecken. Endlich blieb mein leider unbewaffnetes Auge an einem ziemlich kugelrunden und rostigen Gerippe hängen, das im Durchmesser ungefähr sechs Fuß zählen mochte. Den Sinn dieser aus verbogenen Metallbändern bestehenden Kugel konnte ich anfangs nicht begreifen, bis mich plötzlich die Eingebung durchschoß, es müsse ein altertümlicher Himmelsglobus sein, lange zwar nach meinem Hinschied gegossen und dennoch aus grauer Vorzeit stammend. Als sich meine Augen mehr und mehr an die rötliche Dämmerung der umgitterten Aushöhlung gewöhnt hatten, welche, wie mich’s jetzt dünkte, eher als einem Bergwerk dem Becken eines großen Teiches glich, aus dem man das Wasser abgelassen hatte, gewahrte ich, daß der zerlämperte und verbogene Himmelsglobus aus einem mächtigen Unterbau von Totenschädeln hervorwuchs, ähnlich, doch nur viel größer, wie man sie in den steirischen oder Kärntner Alpentälern in den sogenannten Karnern auftürmt. Mein psychologisches Verständnis für die Gegenwart war inzwischen schon so geschärft, daß ich fühlte, mit welchem mythischen Grauen der Anblick dieses Totenschädelfundaments die Zeitgenossen, die das Wort Tod aus ihrem Vokabular gestrichen hatten, zweifellos erfüllen mußte.

      Meine betrachtende Versunkenheit wurde durch die scharfe Stimme unsres Bräutigams durchbrochen, welche sich der tiefen Stille entrang, die trotz der großen Menschenmauer hinter meinem Rücken herrschte.

      „Wo ist der Fremdenführer?“ rief Io-Do. „Er ist wieder einmal nicht zur Stelle, obwohl Seigneur eingetroffen ist und man ihn zur Zeit angerufen hat.“

      Wann hat man ihn gerufen? dachte ich, da Fiancé Io- Do doch erst vor wenigen Minuten den Einfall dieses Ausflugs gehabt hat.

      Herrn Io-Solips Stimme flüsterte kalmierend:

      „Du bist zwar Bräutigam, Sohn, und hast das Recht, deine Stimme zu erheben, so oft und so laut du willst. Aber ich würde trotzdem nicht aller Welt zeigen, wie wenig ich mich beherrschen kann . . .“

      „Wenn der Fremdenführer nicht kommt“, sagte Io-Do trotzig, „so werde ich persönlich den Welthausmeier wecken. Ich bin’s imstande. Es ist mein Recht. Man ist nur einmal Bräutigam.“


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