Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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wirklich, als sei er dem Innern der Erde entkrochen, hatte plötzlich ein Mann den gerüstartigen Aufbau bestiegen, der sich vom Grunde des Bergwerks oder Teichbeckens bis ein wenig übers Niveau des Geodroms erhob. Von diesem Mann war weiter nichts zu sagen, als daß er ein Mann war wie alle andern Männer, bartlos, alterlos, faltenlos, jedoch, ebenso wie der Mutarianer daheim, keinen Perückenaufsatz auf dem billardkugelglatten Schädel trug. Ich zähle deshalb in meiner Erinnerung auch den Fremdenführer zu den hohen Staatsbeamten. Inzwischen drängten die Tausende, die den Mittelteil der zentralen Plaza erfüllten, etwas näher an das Gitter heran, obgleich nur ein kleiner Teil hoffen konnte, irgend etwas zu sehn, denn wie die Wohnungen dieser Zeit, so befanden sich auch ihre Denkmäler unter der Erde. Der Fremdenführer räusperte sich lange, hatte aber keinen Lautsprecher vor sich, um seine Stimme zu verstärken. Das einzige relativ technische Werkzeug, das mir in dem astromentalen Zeitalter untergekommen war, blieb das Reisegeduldspiel. Dennoch aber erscholl die Stimme des Fremdenführers so weittragend, ja dröhnend, als würden von ihr die Luftwellen durch einen unbekannten Trick in gesteigerte Schwingung versetzt:

      „Geehrte los beiderlei Geschlechts“, begann er seinen Vortrag mit der routinierten Heiserkeit aller Ciceronen, „Sie haben sich heute in beträchtlicher Zahl auf dem Geodrom eingefunden, um das älteste aller Denkmale zu betrachten, welches eine ferne Vorzeit auf Erden zurückgelassen hat, und zwar ein Denkmal, dessen Bedeutung die Wissenschaft nicht erst entdecken muß, sondern das, durch Geschichte und Literatur von jeher dokumentiert, sich an dieser Stelle befindet, seitdem es eine Kontinuität menschlichen Gedächtnisses gibt. Als privilegierter Fremdenführer dieses Zeitalters habe ich hiemit die Ehre, alle Anwesenden herzlichst zu begrüßen, insonderheit aber die lieben Kinderlein unter den Anwesenden, die das erste Mal zu ihrem Nutz und Frommen das Denkmal des Letzten Krieges erblicken . . .“

      Der Mann auf der Redekanzel, die ähnlich über die Erdoberfläche hervorragte wie seinerzeit ein Arbeitsgerüst beim Tiefbau, machte eine kleine, gewitzigte Pause. Dann fuhr er etwas leiser fort, und seine oratorisch geläufige Heiserkeit deutete schon mehr auf einen Politiker hin als auf einen Cicerone:

      „Darüber hinaus, meine werten Ios, habe ich heute die seltene Ehre, der Fremdenführer des Zeitalters im wahren Wortsinn zu sein und nicht nur ein Denkmalserklärer für Wiß- und Neugierige und Abendbummler, indem sich nämlich ein wirklich Fremder unter uns eingefunden hat, und zwar durch gütige Vermittlung der Brautfamilie Io-Fagòr und der Bräutigamsfamilie Io-Solip, die zur Zeit ihre großen drei Tage feiern. Wir sind diesen hochachtbaren Familien den herzlichsten Dank schuldig, daß sie es mit Hilfe eines Hausfreunds, der nicht genannt sein möchte, sowie durch ihre eigene beharrliche Bemühung ermöglicht haben, daß wir unter uns einen Gast aus den Anfängen des Menschengeschlechts begrüßen dürfen, einen Gast, ganz echt in seinem weißhäutigen Leibe und steifen, groben Kostüm, wie Sie alle selbst sehn können . . . Ich begrüße somit Seigneur mit dem Wunsche, er möge sich recht wohl fühlen in unserer Mitte . . .“

      Ich fühlte mich gar nicht wohl. Es war einer jener Augenblicke, wo man am liebsten in ein Mauseloch kriechen möchte. Die Menschenmenge ringsum applaudierte und stampfte ein bißchen, ungefähr wie es zu meiner Zeit geschah, wenn das Publikum eine untermittelmäßige Zelebrität begrüßte, von der es so gut wie nichts wußte. Obwohl ich somit kein Success war, lächelte ich wieder dankend nach allen Seiten und entblößte die Zähne. Der Fremdenführer, der plötzlich einen Zeigestab von der doppelten Länge einer Fischangel in der Hand hielt, wies mit ihm auf mich:

      „Ich möchte darauf aufmerksam machen“, sagte er, „daß Seigneur widerspruchsvollerweise bei weitem der Älteste und bei weitem der Jüngste unter uns ist. Als würdiges Mitglied der uranfänglichen Menschheit ist er von solch unnennbarer Jugend und Kindlichkeit, ein Baby der Entwicklungsgeschichte gleichsam, daß jedermann und besonders die Damen ihn mit teils neugierigen, teils mütterlichen Händen betasten möchten. Als lieber Besucher unsrer Gegenwart andrerseits umspannt er in voller körperlicher Frische zwei Weltepochen von solcher Auseinandergelegenheit, daß man vor seinem unnennbar hohen Alter zurückweicht in natürlichem Ehrfurchtsschauder . . . Ist es nicht so?“

      Beifallsgemurmel der Menschenmauer. Man lebte im mentalen Zeitalter und hatte daher ein genußvolleres Verständnis für feingeprägte Paradoxe und Antithesen als in einer Periode journalistischer Faktenanbetung. Trotz meines Uralters und meiner Urjugendlichkeit aber fühlte ich mich nicht anders als jüngst vor dem Einschlafen, also rund fünfzigjährig. Ich war wie erlöst, als die Angel in der Hand des Fremdenführers sich von mir weg und dem zerlämperten Himmelsglobus zuwandte:

      „Damals, Seigneur und liebe Zuhörer sonst“, bog er nun endlich in seinen Fremdenführervortrag ein, „damals, ehe die Goldschmiede aus ihrem zu ihrer Zeit so hochgeschätzten Metall die Bänder dieser primitiven Himmelsabbildung zurechthämmerten, hatte die Menschheit das Ärgste schon überstanden. Der Letzte Krieg wurde nämlich nicht mehr wie der Vorletzte Krieg mit rettungsloser Teufelei von allen gegen alle geführt, sondern nur mehr von ausgewählten Zehntausend gegen ausgewählte Zehntausend. Beide Zehntausend vernichteten einander innerhalb von drei drei Zehntel Minuten bis auf den letzten Mann, wodurch bewiesen war, daß die waffenmäßige Austragung von Zwistigkeiten nichts mehr wirklich entscheiden und daher auch länger nicht als zeitgemäß gelten könnte. Zwar erhoben sich nach jenen drei drei Zehntel Minuten der gegenseitigen Vernichtung noch einige fanatische Stimmen, welche beide Parteien zum Zwecke völliger Ausrottung aufeinander hetzen wollten, aber sonderbarer-, ehrenwerter- und unerwarteterweise siegte diesmal die Stimme der Vernunft. Man erinnerte sich mit Entsetzen des Vorletzten Krieges, der viele Menschenalter zuvor den Planeten verödet, die Überlebenden zu Höhlenbewohnern gemacht und ihnen alle Wissenschaft und, wie einige Fachgelehrte behaupten, sogar das Sprachvermögen genommen hatte. Die plumpe Geistesstufe, auf der die Menschen zur Zeit jenes Vorletzten Krieges standen, erkennen wir auch noch an ihren plumpen Waffen. Wer kennt nicht die Fernsubstanz- oder Fernschattenzertrümmerer, deren Anzahl unerschöpflich scheint? Die Kinder im Park des Arbeiters spielen mit diesen Fernsubstanzzertrümmerern, die freilich nicht mehr durch Aufknackung der Nuclei den Weltraum der Unikel freilegen . . .“

      „Ich möchte doch gebeten haben“, ließ Fiancé Io-Do einen Zwischenruf hören, seine eigne Waffensammlung verteidigend.

      Die Blicke des Fremdenführers suchten mich, ehe er den interessanten Vortrag fortsetzte, den ich natürlich nicht in seinen, sondern nur in meinen Worten wiedergeben kann, wodurch ich ihm viel von seiner glatten Kälte und sternenfernen Unbeteiligtheit wegnehme. Ihm, dem privilegierten Fremdenführer dieses Zeitalters, war Krieg und Kriegsschrecken gleichgültiger und irrealer als dem Fremdenführer durch die Gefängnisse der venezianischen Dogen das verschollene Todesröcheln der Angeschmiedeten unter den Bleidächern.

      „Das Zeitalter, welches dem Vorletzten Kriege unmittelbar voranging“, fuhr der Redner fort, „glich nicht mehr den Anfängen der Menschheit, deren schätzenswerten Augenzeugen wir zur Genugtuung des heutigen Tages bei uns haben. Seigneur könnte gewiß aus näherer Kenntnis als der hellsichtigste Gelehrte das primitive Leben des Urmenschen schildern, als da noch auf jede zehn Quadratmeilen ein anderer Stamm mit andrer Sprache, andern Sitten, andern Gebräuchen unter Zelten, niedrigen Strohdächern oder gar in termitenmäßigen oder schachtelartigen Hochgebäuden wohnte . . .“

      Ich preßte verzweifelt B.H.s Hand:

      „Um Gottes willen“, flüsterte ich, „ich werde kein Wort reden. Ich lasse mich nicht zwingen . . .“

      B.H., sichtlich verärgert durch mein Benehmen, machte zum Fremdenführer hin ein verneinendes Zeichen, der nachsichtig nickte und seinen Vortrag ohne Pause fortsetzte:

      „Zur Zeit des Vorletzten Krieges war unser Globus bereits heptalingual. Es gab nur mehr sieben verschiedene Sprachen, sieben verschiedene Völker, sieben verschiedene Reiche, wie es sieben Farben gibt. Ein Teil dieser Reiche, Völker, Sprachen, bewohnte mehr die Inseln, der andre mehr die Kontinente. Die Bewohner der Inseln waren reicher, friedlicher, vernunftentwickelter und phantasieloser, die Bewohner der Festländer waren ärmer an Lebensgütern, sie machten nicht die allgültige Logik zu ihrer Richtschnur, sondern vage Gefühle und Träume, die ihre Herzen füllten. Sie waren unbefriedigt in ihrem Lebenswandel, diese Kontinentalen, und darum fühlten und träumten sie zu viel und zumeist


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