Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi. Unni Lindell
Читать онлайн книгу.auf etwas anderes zu konzentrieren als auf den Mann neben ihr. Und den toten Menschen auf der Bahre. Sie dachte an den Tag, an dem sie beschlossen hatte, zur Polizei zu gehen. Es war in dem Sommer gewesen, in dem ihre Brüder ihr im Wald weggelaufen waren und sie allein und ohne Spielkameraden dastand. Und sie hatte Angst gehabt, weil sie allein gewesen war. Ihre Entscheidung hatte etwas mit Angst und Einsamkeit zu tun gehabt. Und mit Rache. Sie hatte dort gestanden und gesehen, wie ihre Brüder zwischen den grünblättrigen Bäumen verschwanden, und sie hatte gewusst, dass sie sie auf hohen Absätzen nicht einholen könnte. Wenn sie erwachsen war, wollte sie hochhackige Schuhe haben. Aber das war nicht der richtige Weg. Es war ihnen fast gelungen, sie unsichtbar werden zu lassen. Aber nur fast. Sie würden schon sehen. Und sie hatten es gesehen.
Als Axel Blad sich endlich zum Gehen anschickte, hing das mit dem Licht des kleinen Fensters zusammen. Die Jalousien waren fast dicht, aber das Licht presste sich in linealgeraden Strichen durch die länglichen Stahlplatten und zeichnete auf die Wand hinter ihnen ein Strichmuster. Diese Striche markierten die Gleichung des Lebens auf scharfe und klare Weise. Die Lösung war: der Tod. Makaber, dachte Axel Blad, dass ich hier stehen und sie auf diese Weise betrachten muss. Sie mit meinen anderen Augen ansehen muss.
Wenn sie es doch geschafft hätte, nicht alles, was er getan hatte, zu kommentieren. Jetzt spürte er das schmerzhafte Gefühl in der Halsgrube. Die Polizistin legte ihm die Hand auf den Arm. Er nickte kurz. Für einen Moment schienen seine Augen von einer feuchten Haut bedeckt zu sein, aber er schaffte es nicht. Er schaffte es nicht zu weinen. Dann sagte er: »Ja, sie ist es.«
Die Scherenschnitte an seinen Bürofenstern sahen aus wie farbenfrohe Spitzen. Einer war knallrosa, einer türkisgrün. Sein jüngster Sohn hatte sie Cato Isaksen zu Weihnachten geschenkt.
Er hatte soeben erfahren, dass der vorläufige Obduktionsbericht gegen vier Uhr eintreffen würde. Wie lange würden sie wohl brauchen, um den Mörder zu finden? Wie lange würde er sich verstecken können? Es konnte natürlich sozusagen jeder sein, aber dass sie gerade dort ermordet worden war, vor dem Möbelhaus, ließ etwas anderes vermuten. Denn was hatte sie dort oben zu suchen gehabt? Rasch schaute Cato Isaksen auf die Uhr. Wenn Randi von der Identifizierung zurückkam, würden sie vielleicht noch Pavel Pletanek erwischen, ehe die Besprechung begann. Er verließ sein Arbeitszimmer, ging über den Flur und blieb vor Randi Johansens Büro stehen. Sie saß auf ihrem Platz. Anfangs merkte sie nicht, dass er sie ansah.
»Da bist du ja schon wieder. Wie war es?«
»Ja«, sagte sie kurz und drehte sich zu ihrem Chef um. Sie trug einen hellblauen Pullover, und die Haare fielen ihr auf der einen Seite vor das Gesicht. »Ich muss wohl sagen, dass es gut gegangen ist. Sie haben sie richtig schön zusammengeflickt.«
Cato Isaksen sah sie an. »Ich möchte, dass du mit mir in die Odins gate fährst. Wir müssen diesen Pavel Pletanek zu fassen bekommen. Stimmt etwas nicht?«
»Ja«, sagte sie monoton. »Gib mir einfach eine Minute.«
»Nein«, sagte Cato Isaksen. »Wir haben es eilig.«
»Du weißt, dass ich im Leichenschauhaus war«, sagte Randi hart. »Mit ihm. Mit Axel Blad.«
»Das ist mir durchaus bewusst«, sagte Cato Isaksen und ließ die Wagenschlüssel klirren. »Jetzt komm schon«, sagte er.
»Ich finde es so schwer, bei Identifizierungen dabei zu sein«, sagte Randi Johansen, als sie im Auto saßen. »Und es war auch etwas Besonderes, gerade mit ihm dort zu stehen. Zu wissen, dass er vielleicht der Täter ist. Und dann dieser schreckliche süßliche Geruch ...«
»Damit haben alle Probleme«, sagte Cato Isaksen ernst. »Ich habe manchmal Albträume von toten Menschen. Ich kann mich noch zehn Jahre lang an die Gesichter von Opfern erinnern.«
Randi holte tief Luft und drehte sich zu ihm um. »Ich habe eben erfahren, dass du und ich Prebens Eltern aufsuchen sollen«, sagte sie.
Cato Isaksen bremste vor einer roten Ampel. »Wer hat das entschieden?«, fragte er.
»Myklebust, natürlich. Sie hält es für das Beste, wenn wir beide das übernehmen. Es soll wohl eine Art Ehre sein«, sagte sie spöttisch. »Sie sagt, wir müssen das so schnell wie möglich erledigen.«
»Das sagt sie also.« Cato Isaksen schaltete in den ersten Gang, dann ließ er die Kupplung los, schaltete in den zweiten und fuhr über die Kreuzung, als die Ampel grün wurde.
Sie hatten gerade in der Odins gate gehalten, als ein Anruf für Randi Johansen kam. Cato Isaksen sah sie verärgert an. Er hörte, dass es sich um die Tagesmutter von Randis Tochter handelte. Sie hätte den Anruf nicht annehmen müssen, dachte er und stieg aus.
Er überquerte die Straße. Es waren nur wenige Autos unterwegs. Aus der Ferne hörte er das Scheppern einer Straßenbahn. Er hatte Glück, denn eine Frau, die soeben das Haus verließ, hielt die Tür für ihn offen. Er schob die Fußmatte in den Türspalt, damit Randi ihm nach Beendigung ihres Telefonates folgen konnte.
Das Mietshaus hatte einen Fahrstuhl, aber Cato Isaksen ging trotzdem die Treppen hoch. Er ging bis in den vierten Stock. Dann ging er wieder nach unten. Im ersten Stock blieb er vor einer abgenutzten grünen Tür mit einem Fenster aus Stahldraht stehen. Das Glas war von einem verschossenen Vorhang bedeckt. Es war die einzige Tür ohne Namensschild, es musste also die Richtige sein. Er drückte auf den Klingelknopf, der ein hartes, scharrendes Geräusch ertönen ließ.
Nach einer Weile waren von innen schlurfende Schritte zu hören, und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.
»Ich hätte gern mit Pavel Pletanek gesprochen«, sagte Cato Isaksen und sah den Mann im Türspalt an. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Sänger Andrea Bochelli. Seine grauen Haare waren zerzaust und ungekämmt. Er machte die Tür ganz auf, und Cato Isaksen sah, dass er Jeans und Unterhemd trug und barfuß war.
»Das bin ich«, sagte der Mann kurz.
»Ich komme von der Polizei«, sagte Cato Isaksen und hörte dabei, dass unten die Haustür zufiel und Randi die Treppe hochstieg.
Der Mann sagte nichts. Er stand nur da und starrte den Ermittler an. Randi Johansen kam lächelnd die Treppe hoch und streckte die Hand aus. Sie war ein wenig außer Atem.
»Wir würden gern mit Ihnen sprechen«, sagte Cato Isaksen noch einmal.
»Worüber denn?«, fragte der Mann feindselig.
»Dürfen wir eintreten?«, fragte Randi Johansen freundlich und zeigte ihren Dienstausweis. Pavel Pletanek machte eine hilflose Handbewegung.
Am Ende des langen Flures, an dessen einer Wand mehrere Wintermäntel hingen, lag ein Wohnzimmer, in das die Gäste nun geführt wurden. Das Zimmer war mittelgroß und hatte geschlossene Vorhänge. Unter der schönen Decke mit den Stuckrosetten hing ein eleganter Leuchter. Alle Lampen im Zimmer brannten. In der einen Ecke stand schräg ein großer Flügel. Darauf stand eine dünne Glasvase mit einer verwelkten hellbraunen Rose. Am Stängel der Rose hing ein weißer Zettel. Auf einem braunen Sofa aus den fünfziger Jahren lag eine Geige. Zwei mit Gegenständen belegte Sessel standen auf der anderen Seite des abgenutzten Couchtisches. Die Wände waren bedeckt von Bücherregalen und zwei scheußlichen Gemälden. Auf dem Boden lag ein verschlissener Perserteppich.
Der Tscheche räumte Notenblätter und alte Zeitungen von den Sesseln und bat die Gäste, sich zu setzen. Dann ging er zu den Fenstern und öffnete die Vorhänge.
Randi Johansen setzte sich in den einen Sessel. Cato Isaksen blieb einen Moment stehen. Die Sessel waren unangenehm tief und wenig bequem.
»Wissen Sie, weshalb wir kommen?«, begann er und betrachtete den Mann, der die Geige hochhob und auf den Flügel legte.
Pavel Pletanek nickte. »Jenny Brown hat mich angerufen«, sagte er und setzte sich auf das Sofa.
»Ach«, sagte Cato Isaksen. »Ihr Telefon war also doch eingeschaltet?«
»Ich schalte es oft aus, wenn ich übe.«
»Wo waren Sie gestern?«
»Nirgendwo.