Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder
Читать онлайн книгу.was ich wirklich kann.«
Gisler rieb sich wieder den Schnurrbart. »Ach, Sie sind zur Polizei gekommen, um sich zu beweisen? Das sagen mir sonst die Zwanzigjährigen. Sie sind wie alt?«
»Dreiunddreißig.« Er musste puterrot sein. »Natürlich will ich mich nicht beweisen wie ein Zwanzigjähriger. Was ich meine …«
Gisler interessierte nicht, was er meinte. »Fragen wir anders«, unterbrach er ihn. »Was, glauben Sie, ist Ihre primäre Aufgabe?«
»Als Polizist oder im Leben?«
Das hatte klug klingen sollen, doch Gisler schien die Lust an ihrem Gespräch zu verlieren. »Ich sage es Ihnen, Capaul: Die Ordnung aufrechtzuerhalten. Normalen Bürgern ein normales Leben zu ermöglichen. Zu schauen etwa, dass niemand zu schnell fährt. Dazwischenzugehen, wenn jemand dreinschlägt. Zu beschwichtigen. Zu beschützen. Es ist nicht Ihre Aufgabe, Capaul, Misstrauen zu säen, Menschen zu verunsichern oder sie zu provozieren. Wer immer nur bohrt, Capaul, mag zwar dann und wann auf Öl stoßen, aber selbst wenn, muss man sich fragen, ob das permanente Bohren nicht viel mehr zerstört, als es einbringt.«
Capaul konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gleichzeitig schoss ihm Bernhilds Bemerkung durch den Kopf: Ein Polizist muss Vertrauen erwecken, nicht verführen.
Gisler war womöglich überrascht, dass Capaul nicht protestierte oder sich verteidigte, denn er fuhr um einiges sanfter fort: »Bei Polizist Meier werden Sie eine Geländeausrüstung fassen, danach fährt er Sie nach Lavin. Dort assistieren Sie der Dienststelle Zernez dabei, alles zu regeln, was mit dem Bergsturz zu tun hat. Genauer gesagt war es ein Felssturz. Sie werden dabei nicht denken, Capaul, nur zupacken. Das Denken überlassen Sie Ihren erfahrenen Kollegen. Glauben Sie, das schaffen Sie?«
Capaul nickte. »Danke, Herr Gisler.« Er stand auf und wollte ihm die Hand geben.
Gisler rührte sich nicht. »Für Sie immer noch ›Herr Offizier‹«, bemerkte er ruhig. »Polizist Capaul, abtreten!«
Damit hatte sein Dienst offiziell begonnen.
Leicht benommen verließ Capaul das Sitzungszimmer. Sein Kollege Linard – »Polizist Meier« – lümmelte in seinem Drehstuhl. Grinsend schob er ein Paar gut eingetragene Bergschuhe mit Stahlkappen und einen abgewetzten Geländeanzug übers Pult. Offenbar war der Ausgang des Gesprächs schon vorher klar gewesen.
Capaul verzog sich hinter eine Stellwand und wechselte die Kleider. »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Bergsturz und einem Felssturz?«, wollte er wissen, als er wieder hervorkam.
Linard zog einen Schlüsselbund aus der Schublade und ließ ihn locker um den Finger kreisen. »Einmal stürzt ein Berg, das andere Mal ein Fels, nehme ich an.« Pfeifend schnappte er seine Jacke und ging voraus.
Der Streifenwagen stand auf einem der Parkplätze direkt vor dem Revier.
»Ein Berg, das sind doch aber auch Felsen«, beharrte Capaul. »Der Berg stürzt ja nicht als Ganzes.«
Linard überhörte ihn. Kopfschüttelnd stand er vor dem Wagen und betrachtete die Staubschicht.
»Lass mich machen«, sagte Capaul und wollte ihn mit dem Ärmel wegwischen.
Linard zog ihn überraschend brüsk zurück. »Trottel, du zerkratzt die Scheibe! Das Zeug ist hart und scharf wie Diamantenstaub. Da hilft nur spülen.« Er öffnete die Tür, setzte sich hinters Steuer und sprühte Fensterreiniger auf die Scheibe. Der verwandelte den Staub zuerst in eine dunkle Pampe, dann fraßen sich einige Rinnsale hindurch, die immer breiter wurden. Endlich rutschten ganze Schollen herunter. Die letzten Reste beseitigte der Scheibenwischer.
Die Seitenfenster und die Heckscheibe blieben verklebt, im Wagen war es schummrig wie in einer Höhle – einer vom Geruch von Fensterputzmittel geschwängerten Höhle.
Capaul schnallte sich an, und Linard gab ihm eine Straßenkarte. »Schlag mal auf.« Er steuerte den Wagen aus dem Parkplatz, dann tippte er mit dem Finger auf Lavin. »Nördlich davon liegt der Piz Linard, und die kleine Spitze davor ist der Linard Pitschen. Das Material hat sich ganz oben gelöst, in dreitausend Metern Höhe, und ist bei der Alp d’Immez gelandet, tausend Meter tiefer. Nicht allzu viel, zwanzig-, dreißigtausend Kubikmeter, aber wer weiß, wie viel noch kommt.«
»Wie viel ist das?«
»Beim großen Unglück in Bondo waren es zwei Millionen, soviel ich weiß. Aber schon ein einzelner Stein kann töten. Und die Brocken in Lavin sollen bis zu sechzig Kubikmeter groß gewesen sein, so viel fasst ein Vierzigtonnen-Lastwagen.«
»Donnerwetter«, sagte Capaul. »Gab es Tote?« Sie fuhren nun den Inn entlang, dessen blassrote Farbe ihn an das Spülwasser bei einer Obduktion erinnerte.
Linard zuckte mit den Achseln. »Ich habe nur gehört, dass ein paar Wanderer und Sennen mit dem Helikopter ausgeflogen werden, ein Wanderer wird noch gesucht.«
»Und was tue ich?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Zernez Verstärkung angefordert hat. Lavin und Susch sind seit ein paar Jahren Teil der Gemeinde Zernez.«
Ein Hubschrauber strich dicht über ihnen in Schräglage den Talboden entlang Richtung Unterengadin.
»Die ›Heli Bernina‹ ist in Samedan stationiert«, sagte Linard, »vermutlich ist er das.«
Capaul hatte gleich einige Fragen auf der Zunge, doch Linard kam ihm zuvor: »Mach mal das Handschuhfach auf. Da, der kleine Würfel, das ist ein Verstärker.« Gleichzeitig suchte er etwas auf dem Handy. »Perfekt, Dire Straits: Sultans of Swing. Dem Wetter zu Ehren. Steck ein und stell an.«
Er gab Capaul sein Handy, Capaul schloss den Verstärker an und drückte »Play«. Das kleine Teil hatte einen enormen Bass, an ein Gespräch war nicht mehr zu denken.
Capaul lehnte sich zurück und sah hinaus. Sie fuhren an Nadelwäldern und Wiesen vorbei. Die Lärchen standen nackt und krakelig an den steilen Hängen, ein Teppich aus goldenen Nadeln bedeckte den Waldboden und floss weiter, über das welke Gras bis hinab auf den Talgrund. Auch hier lag über allem ein Hauch Wüstenrot, doch das Gold war stärker. Der kleine Wasserfall dagegen, der kurz vor Susch über die Straßengalerie hinabschoss, erinnerte ihn wieder an den Seziertisch, und auch der Himmel dahinter schimmerte fahl wie die Haut eines Toten.
Capaul erwähnte es in der Pause zwischen zwei Liedern.
Linard lachte nur. »Wie viele Tote kannst du Frischling schon gesehen haben?« Gleich darauf begann das nächste Stück, und er sang lauthals mit: »If you wanna run cool, you got to run on heavy, heavy fuel.«
Capaul versuchte in Gedanken die Menschen zu zählen, die er in den Tod begleitet oder deren Leichen er gewaschen und eingekleidet hatte. Die Zeit vor der Polizeischule, als er noch im Sterbehospiz gearbeitet hatte, lag nicht weit zurück.
Er war noch nicht fertig mit Zählen, als Linard von der Kantonsstraße abbog und den Wagen durch Lavins enge Gassen führte, dann unter dem Bahngleis und wiederum der Kantonsstraße hindurchfuhr, um auf einen schlichten Abstellplatz am Waldrand zu gelangen, hinter dem ein Bach sich mit den Jahrhunderten oder Jahrtausenden einige Meter tief ins Gestein gegraben hatte. Neben ihnen stand ein Kastenwagen der Polizei geparkt. Ein Korporal und eine Polizistin mit Gefreitenabzeichen saßen darin bei geöffneter Tür, er funkte, sie telefonierte. Als sie Linard hinterm Steuer erkannte, winkte sie ihm fröhlich zu.
Linard grüßte, bedeutete mit einer Geste, dass er gleich wieder verschwinden würde, und schlug Capaul kumpelhaft auf die Schulter. »These mist covered mountains are home now for me«, sang er. »Wobei ›mist‹ nicht Mist meint, klar?«
Er ließ Capaul bei laufendem Motor aussteigen, wendete schwungvoll – wobei er eine Menge Staub aufwirbelte – und fuhr davon.
Danach war es still. Der Bach war nur ein dünnes steingraues Rinnsal von fast öliger Konsistenz, vermutlich war das Bett weiter oben mit Schutt verstopft. Von fern hörte er das Stottern des Hubschraubers und vom Kastenwagen her gelegentlich die Signalfrequenz – tüdelüt –