Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder

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Engadiner Hochjagd - Gian Maria Calonder


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ich jetzt dieses Hotel. Ich sehe die Männer am Stammtisch. Ich sehe die Männer, die den Stammtisch meiden und allein sitzen. In welcher Verfassung sie sind, erkenne ich an der Art, wie sie ihr Bier trinken, hastig, achtlos, bedachtsam, gierig oder mit heimlichem Ekel. Tumasch trank seines gar nicht. Er vergaß es. Er saß eine Stunde, zwei Stunden lang hinter dem vollen Glas, innerlich ausgelöscht. Eine Hülse. Er lebte nicht mehr, er saß seine Lebenszeit ab wie eine Strafe.« Er hatte sich vorgebeugt und die letzten Sätze ganz leise gesprochen, im Tonfall eines Märchens.

      »Seine Strafe wofür?«, fragte Roman gebannt.

      Emil lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Ich weiß es nicht.«

      Capaul wollte wissen: »Warum hat er sich dann nicht umgebracht?«

      »Weil die Strafe gerecht war, nehme ich an«, sagte Emil fast süffisant. »Er hat sie angenommen. Nein, mehr noch: Er hat sie verschärft. Er hat die letzten Jahre damit zugebracht, Steine zu schleppen wie ein Zuchthäusler.«

      »Bisher hatte ich bei Tumasch das Bild von einem Dorftrottel«, gestand Capaul, »doch in deinen Augen ist er fast ein Philosoph.«

      »Wo ist der Unterschied?«, fragte Emil.

      Und Roman lachte: »Emil ist unser Philosoph.« Dann schlug er mit den Handflächen auf den Tisch und stand auf. »Die Mittagspause ist vorbei, mich ruft das Büro. Du, Capaul, suchst inzwischen jemanden, der bezeugen kann, dass Tumasch gestern auf der Alp d’Immez war.«

      »Und wo finde ich diesen Zeugen?«

      Emil begleitete sie hinaus.

      »Es gibt zwei Orte, an denen die Leute gesprächig werden, das Wirtshaus und den Friedhof.«

      III

      Capaul ließ sich den Weg zur Baselgia San Güerg zeigen. Während er die Dorfstraße entlangging, hörte er es dreimal vom Piz Linard her knallen. Ein rotbackiger Vierzigjähriger, der übers Handy gebeugt auf dem Kinderspielplatz beim Volg gesessen hatte, sah auf.

      »Wenn das nur kein neuer Felssturz ist«, sagte Capaul.

      »Nein, das waren Schüsse«, behauptete der Mann. Er war blond mit Tendenz zur Mittelglatze, trug ein goldenes Handkettchen und moderne Funktionskleidung. »Von einem Felssturz würde man hier im Dorf allenfalls ein Rumpeln hören. Man hat mich schon gewarnt, es ist chatsch’extra, Nachjagd. Mittwoch, Samstag und Sonntag werden die Rehe und Hirsche abgeknallt, die die Jäger im September verpasst haben.« Er stand auf, schulterte den Rucksack und bog auf den Weg zum Piz Linard ein. Capaul ging in die andere Richtung, doch dann überlegte er es sich anders und folgte dem Blondschopf unter der Eisenbahnlinie und der Straße hindurch bis zum Parkplatz Chamonna dal Linard, wo er am Morgen Barbla und Roman kennengelernt hatte.

      »He«, rief er. Der Mann blieb stehen und drehte sich um. »Wenn da oben geschossen wird, sollten Sie Ihre Wanderung besser auf einen anderen Tag verschieben.«

      »Wo ich hingehe, ist Wildschutzzone.«

      »Und wo wäre das?«

      Der Blondschopf zeigte hoch zur Val Lavinuoz.

      »Der Weg ist gesperrt, und nicht ohne Grund.«

      »Der Felssturz, ich weiß Bescheid. Mein Name ist Freitag, ich bin Kantonsgeologe und verantwortlich für dieses Gebiet. Ich weiß sehr wohl, was ich tue.«

      Sie schüttelten die Hände.

      »Capaul, Kantonspolizei. Warum hat mir niemand gesagt, dass Sie kommen?«

      »Ich hätte mit dem Hubschrauber fliegen sollen, der Flug wurde abgeblasen. Es hat mir aber keine Ruhe gelassen, einen Felssturz von diesem Ausmaß hatten wir nicht erwartet. Ich muss mir unbedingt die Abbruchstelle ansehen.«

      »Nehmen Sie mich mit?«

      »Haben Sie einen Helm?«

      »Nein, aber ich kann ja Abstand halten.«

      »Wenn Sie Abstand halten wollen, bleiben Sie hier. Die Anweisung, die ganze Val Lavinuoz abzusperren und nicht nur die Alp d’Immez, kam von mir, und nicht von ungefähr. Die Steinmassen können aufbranden, es kann Querschläger geben, alles Mögliche ist denkbar.«

      »Wenigstens ein Stück, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«

      »Na schön, dann kommen Sie.«

      Freitag bückte sich unter der Abschrankung hindurch und stieg voran. Er hatte einen starken Körpergeruch, gegen das auch sein Deodorant nicht ankam. Die ersten Wegschlaufen waren steil, und Capaul wunderte sich, wie Tumasch mit seiner Gehbehinderung täglich hoch- und wieder heruntergekommen sein sollte. Erst als sie das Steilstück überwunden hatten, sah er, dass von der Kirche her eine Schotterstraße hochführte.

      Sie kamen in den Wald, es duftete nach gefallenem Laub und dürrem Holz. Doch auch hier verklebte der Staub die Schleimhäute. Nachdem Capaul zu Freitag aufgeschlossen hatte, fragte er: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Bergsturz und einem Felssturz?«

      »Die Masse und die Fließgeschwindigkeit. Der Bergsturz ist größer, entsprechend sind die Kräfte ganz andere. Rutschendes Gestein verhält sich ähnlich wie Wasser. Verbindet es sich dazu tatsächlich mit Wasser, indem das Gestein etwa in einen Bergsee stürzt und eine Flutwelle auslöst, erreicht die Geröllmasse eine Geschwindigkeit von bis zu hundert Stundenkilometern.«

      »War das in Bondo der Fall?«

      »So ähnlich. Noch schlimmer wird es, wenn Eis mit abbricht. Es wird durch den Druck beim Aufprall verflüssigt oder verdampft gar, und auf diesem Dampfkissen gleitet der Schutt wie ein Luftkissenfahrzeug.«

      »All das war hier aber nicht der Fall.«

      »Nein, der Felssturz von gestern war überraschend, aber weitgehend harmlos – wenn man bei einem Toten noch von ›harmlos‹ sprechen kann. Was mich erschreckt, ist der Zeitpunkt. Die Ostflanke des Linard Pitschen ist schon länger lose, allerdings spottet der Berg mit der Geschwindigkeit, in der er zerfällt, allen Prognosen.«

      »Zerfällt?«

      Freitag antwortete nicht. Er öffnete seinen Rucksack, zog eine altmodische Blechflasche heraus, spülte den Mund aus und trank sie leer. Capaul nutzte die Gelegenheit, sich kurz auf einen flechtenbewachsenen Stein zu setzen und den Blick schweifen zu lassen. Sie hatten den Wald verlassen, vor ihnen lag die Val Lavinuoz mit ihrem handtuchschmalen Talboden, durch den sich das Bächlein Lavinuoz schlängelte. Daneben stiegen die Hänge steil an, ein, zwei Kilometer hoch.

      »Ja, zerfällt«, sagte Freitag. »In fünfzig Jahren werden die Alpen ein völlig anderes Gesicht haben. Sagt Ihnen das Wort ›Permafrost‹ etwas?«

      »Ich habe eine ungefähre Ahnung.«

      »Die Berge sind in ihrem Inneren und in den oberen Lagen permanent gefroren. Die Sommer waren bisher zu kurz, die Durchschnittstemperaturen zu tief, als dass die Berge auftauen konnten. Das ändert sich nun mit der Klimaerwärmung, sehr plötzlich und mit weitreichenden Folgen. Der Frost hält nämlich Massen von losem Gestein zusammen. Bleibt er aus, rutscht es ab. Der Frost dichtet außerdem den Berg nach außen ab, macht ihn quasi wasserdicht. Regen und Tauwasser prallen ab. Nun aber dringt das Wasser immer tiefer in den Berg ein, in den unteren Lagen entsteht auf diese Weise enormer Druck, der den Berg sprengt. Das alles wussten wir Wissenschaftler zwar, nur gingen wir davon aus, dass der Prozess Jahrhunderte dauern würde. Offenbar haben wir uns geirrt.«

      Er setzte sich wieder in Bewegung. Capaul stemmte sich hoch und folgte ihm.

      »Ein dritter Faktor«, erklärte Freitag, »ist die Gletscherschmelze. Seit der Klimaerwärmung schmelzen in den Alpen jedes Jahr zwei Millionen Kubikmeter Eis. Die Gletscherzungen schrumpfen rasant. Sie hatten ebenfalls viel Geröll gebunden, man könnte sagen, bei ihrer Entstehung sind sie auf dem Geröll gefahren und haben es nicht nur eingefroren, bei dieser Fahrt haben sich unterm Gletscher auch immense Wälle und Aufhäufungen gebildet. Schmilzt er nun weg, liegen diese Aufhäufungen frei, und falls ihre Lage instabil ist, haben wir Steinschlag, Erdrutsche,


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