Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder

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Engadiner Hochjagd - Gian Maria Calonder


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überquerte sie gleich darauf den Bach, und um in Sichtweite seiner neuen Kollegen zu bleiben, kehrte er bald um, bewunderte eine bestimmt zwanzig, wenn nicht dreißig Meter hohe Lärche, die direkt am Bachbettrand pfeilgerade in den Himmel schoss, und wunderte sich, dass kein Gewitter, kein Erdrutsch, keine Schneeschmelze sie je mitgerissen hatte.

      Nachdem er zum Parkplatz zurückgebummelt war, studierte er die Wanderwegweiser. Einer der Wege, beschildert mit Chamanna Marangun, war mit einem einfachen Streifenband abgesperrt, davor warnte eine provisorische Tafel: Steinschlag! LEBENSGEFAHR! Er schlüpfte unter dem Band hindurch und stieg einen steilen Pfad empor, der in einen sorgsam terrassierten, mediterran anmutenden Hang führte: Talwärts waren mit Maschendraht einige Gärtlein abgeteilt, bergwärts wechselten sich karge Wiesenstufen mit nacktem Fels, krummen Birken und dornigem Gestrüpp ab, vermutlich Alpenrosen.

      Man sah von hier aus weit ins Tal. Auf halber Höhe am Berg schlängelten sich die Straße und die Eisenbahn, ganz unten floss der Inn zwischen Häusern hindurch, an Gärten und Äckern entlang. Ein kleines Dorf, nur ein Häuserkranz, lag erhöht, das musste Guarda sein. Bei seinem Anblick dachte Capaul unwillkürlich an eine Dornenkrone.

      Die Freude, hier arbeiten zu dürfen, wurde nur getrübt durch den Staub, der in alle Öffnungen drang. Capaul spuckte aus. Als er sich umwandte, um zum Parkplatz zurückzukehren, überrannte er fast die Polizistin.

      »Attenziun«, rief sie lachend – wobei sie eine staubverklebte Oberzahnreihe entblößte – und klammerte sich an ihn, bis sie das Gleichgewicht wiederfand. »Wir brauchen nicht noch mehr Tote.« Dann schüttelte sie ihm die Hand. Ihre war schmal, doch ausgesprochen kräftig. »Ich bin Barbla. Entschuldige, dass wir dich haben warten lassen. Komm.«

      II

      Capaul stieg hinter Barbla den abschüssigen Pfad hinab. Er hatte Mühe, ihr Tempo zu halten.

      »Von Toten hat Linard gar nichts gesagt«, bemerkte er aufgeregt. »Wie viele sind es? Gibt es Verletzte? Was kann ich tun? Und wo sind alle anderen?«

      »Welche anderen?«

      »Armee, Räumungstrupps, Planungsstab, Sanitäter.«

      Sie hatten den Parkplatz erreicht.

      »Moment«, sagte Barbla belustigt, »das mit den Toten war so dahingesagt. Acht Leute waren in der Berghütte Chamanna Marangun, als es passiert ist, fünf Erwachsene, drei Kinder. Die werden gerade ausgeflogen, ich hoffe, sie genießen den Flug. Danach holt Franz, der Pilot, noch zwei Hirten raus.«

      Während sie redete, löste sie ihr langes, fahlblondes Haar, das zu einer Art Knoten gebunden gewesen war, schüttelte es aus und band es neu. »Helfer haben wir nicht, das heißt, wir holen telefonisch Rat. Lavin ist nicht Bondo, per furtüna da Dieu.«

      Während sie sprach, prägte Capaul sich die markanten Merkmale ihres Gesichts ein: die schmalen, schlecht durchbluteten Lippen, goldene Kügelchen an den fleischigen Ohrläppchen und ihre graublauen Augen, deren Iris ein kräftiger schwarzer Ring abschloss.

      »Sieh mich nicht so an«, bat Barbla. »Ich ziehe zwei Kinder groß. Da bleibt keine Zeit, zum Friseur zu gehen, auch wenn ich nur Teilzeit arbeite. Hast du Kinder?«

      Statt zu antworten, fragte er: »Was war das dann für ein Spruch mit den Toten?«

      »Ach so. Einer ist verschollen, ein Sonderling aus dem Dorf, er heißt Tumasch. Seit wohl zwei Jahren steigt er praktisch jeden Tag hinauf in die Val Lavinuoz, um dort Steine fortzuräumen und aufzuschichten. Steine, die vom Berg fallen. Niemand weiß genau warum.«

      »Die Steine fallen schon länger?«

      »Ja, Steinschlaggefahr herrscht dort permanent. Und Tumasch räumt die Steine jeweils wieder weg. Seine Frau kann nicht mit letzter Gewissheit sagen, dass er gestern oben war, aber mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit. Zudem kam Tumasch in der Nacht nicht heim.«

      »Kann man ihn nicht orten? Über sein Handy etwa?«

      »Haben wir versucht, aber das Handy ist tot. Was wiederum dafür spricht, dass Tumasch dort oben ist, denn die Val Lavinuoz ist ein Funkloch.«

      »Habt ihr es mit einer Wärmekamera versucht?«

      Sie lächelte – bestimmt fand sie ihn altklug – und erklärte: »Bei diesen Temperaturen unterscheidet sich ein lebender Körper kaum von der Umgebung. Das ist das eine. Das andere: Selbst wenn wir Tumasch orten und er noch leben sollte, wie kriegen wir ihn von dort fort? Solange sich die Lage am Berg nicht stabilisiert, dürfen wir niemanden in die Falllinie schicken. Er müsste sich also selbst anseilen, und sogar dann käme der Hubschrauber nicht nah genug heran, um ihn hochzuziehen. Die Steine fallen tausend Meter tief und prallen ab. Trifft einer den Rotor, haben wir Tote im Plural.«

      Das leuchtete Capaul ein. »Und was tun wir jetzt?«

      »Nun, die Idee ist, dass du mit Franz hochfliegst und die Gegend mit dem Fernglas absuchst. Wir haben gehört, deinen schönen Augen entgehe nichts.«

      Capaul wurde rot. »Wer sagt so was?«

      »Linard natürlich. Wobei er es anders formuliert hat, nämlich als Warnung. Egal, hör zu: Franz nimmt dich an Bord, sobald er die Hirten abgesetzt hat. Er landet auf der anderen Talseite, auf dem Sportplatz eines Ferienheims. Roman fährt dich dorthin, ich selber fahre schleunigst heim und stelle mich an den Herd. Zu Hause wollen drei Männer gefüttert sein.«

      »Die alle drei nicht kochen können?«

      »Na ja, die Jungs sind acht und zehn, und mein Mann hat gerade mal eine halbe Stunde, bevor er wieder losmuss.«

      Inzwischen hatte Roman, ein Fünfzigjähriger mit Wohlstandsbäuchlein und sorgfältig gestutztem Vollbart, der ohne Uniform als Lehrer durchgegangen wäre, den Kastenwagen verlassen und trat zu ihnen.

      »Aktion abgeblasen«, erklärte er. »Der Staub greift angeblich das Hubschraubergetriebe an.«

      Er reichte Capaul eine babyweiche, klamme Hand.

      »So plötzlich?«, wunderte sich Barbla. »Die ›Heli Bernina‹ untersucht doch Bergstürze.«

      »Nicht unser Staub ist das Problem, sondern der Saharastaub. Den weht es zwar auch öfters hierher, aber nicht in dieser Menge. Franz sagt, er frisst sich ins Metall, und das Gewinde leiert aus, oder so ähnlich. Die beiden Hirten hat er noch ausgeflogen, aber jetzt macht er Feierabend.«

      Barbla verdrehte die Augen. »Che miseria! Also einmal mehr Plan B.« Sie ging zum Kastenwagen und griff zum Telefon.

      Capaul fragte: »Und wie geht dieser Plan B?«

      »B sco blöffar«, antwortete Roman. »B wie bluffen. Barbla gibt gleich die Meldung durch. In der heißen Phase einer Katastrophe muss jede Stunde eine Meldung raus, sonst steigt uns die Presse aufs Dach.«

      »Und wenn es nichts zu melden gibt?«

      »Eben blöffar«, sagte Roman. »Zusammen mit der Medienabteilung der Polizei in Chur fällt uns immer was ein. Steigen wir ein.«

      Barbla hängte schon wieder auf. »Anke sagt, das öffentliche Interesse hält sich in Grenzen. Wir haben schon so was wie ein Schlusskommuniqué formuliert. Um drei Uhr sollen wir uns noch mal melden.« Dann hielt sie Capaul die Beifahrertür auf. »Rutsch durch, ich muss als Erste raus.«

      Roman fuhr zum Bahnhof, dort stieg Barbla in ihr eigenes Auto um.

      »Und was tun wir jetzt?«, fragte ihn Capaul.

      »Die Geretteten befragen, ob sie Tumasch gesehen haben. Wir haben sie in der Crusch Alba hier in Lavin einquartiert.«

      Das Wirtshaus Crusch Alba lag am Dorfeingang. Es handelte sich um ein altes Engadinerhaus mit tief eingeschnittenen Fensternischen und Sgraffiti, welche eine kletternde Gämse und verschiedene geheimnisvolle Zeichen zeigten.

      Die Befragung war kurz und vergeblich. Die Wanderer – zwei neuseeländische Familien, die eigentlich schneeschuhwandern wollten – hatten den Tag auf dem Hüttenboden verbummelt


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