Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder
Читать онлайн книгу.durchaus auslöschen könnte.«
Freitag hatte angehalten und zeigte auf zwei Bergspitzen. »Da zum Beispiel, sehen Sie? Das sind der Piz Chapütschin und das Verstanclahorn, zwei Dreitausender mit sehr schönen Gletschern. Darunter liegt die Hütte Marangun, von wo heute früh die Wanderer ausgeflogen worden sind. Ich wette, in ein paar Jahren gibt es diese Hütte nicht mehr.« Er öffnete abermals den Rucksack und zog den Helm und ein Fernglas heraus. »Und jetzt ist es Zeit, Lebewohl zu sagen. Weiter nehme ich Sie nicht mit.«
Vor ihnen lag eine karge, doch hübsche Landschaft, bewachsen mit Lärchen, Vogelbeerbüschen und hohen, inzwischen verdorrten Disteln, zwischen denen Falter flatterten. Abgesehen von der Staubwolke, die noch immer über dem Tal lag, wirkte sie völlig friedlich. Capaul wies auf zwei Häuser. »Ein paar Fragen müssen Sie mir noch gönnen. Ist das die Alp d’Immez?«
Freitag nickte.
»Und wo genau war der Felssturz?«
Die Stelle, auf die Freitag zeigte, wirkte unbedeutend klein in der Weite der Landschaft.
»Und da gehen Sie jetzt hin?«
»Nein, ich steige auf den Gegenhang, von dort aus sehe ich die Abbruchstelle.«
»Können Sie mir noch sagen, wo genau Tumasch seine Steinmännchen gebaut hat?«
»Von Steinmännchen weiß ich nichts, aber ein Mann hat dort Haufen aufgeschichtet, genau da, an der Stelle, die jetzt verschüttet ist. Ich habe ihn einmal darauf aufmerksam gemacht, dass er sich die gefährlichste Stelle überhaupt ausgesucht hat.«
»Und was hat er geantwortet?«
»›Was wollen Sie? Ich räume Geröll weg. Das kann ich nur dort wegräumen, wo es rollt. Und fragen Sie die Leute im Dorf, wird Ihnen jeder sagen: Wenn es um einen von uns nicht schade ist, dann um Tumasch.‹«
»Tun Sie mir den Gefallen und halten nach ihm Ausschau?«
»Ausschau?« Freitag lachte. »Der Schuttkegel mag von hier nach nichts aussehen. Aber ich schätze, dort liegen zehn bis fünfzehn Meter Abbruchmaterial. Da wittern wohl nicht einmal mehr Suchhunde etwas.«
Er hob die Hand zum Gruß und wollte gehen. Eben da pfiff ein Murmeltier, ein zweites antwortete.
»Die sollten längst Winterschlaf halten«, stellte er fest. »Vermutlich hat sie der Felssturz geweckt. Alles gerät durcheinander.«
»Alles?«
»Ja, weil alles zusammenhängt.«
»Auch der Saharawind und dieser Felssturz?«
»Natürlich, doppelt und dreifach. Jede Wärmeperiode, und besonders eine so spät im Jahr, hat Einfluss auf den Permafrost und damit auf den Felsabbruch. Beide sind Kinder der Klimaerwärmung. Mit zunehmender Erwärmung der Polkappen wird auch der Jetstream abgeschwächt, jenes horizontale Windband, das auf der Höhe Mitteleuropas den Globus umzieht. Das hat zwei Folgen: Hoch- und Tiefdruckzentren bleiben stationär, statt zu wandern, das fördert Extremereignisse wie Dürren oder Flutkatastrophen. Und vertikale Winde – Eiswinde aus dem Norden, Glutwinde aus dem Süden – werden nicht mehr abgelenkt, sondern treffen uns mit ganzer Wucht. Momentan bestimmt ein Tief über Spanien unser Wetter. Und es sieht nicht aus, als ob es bald weiterwandern würde. Gut möglich, dass der Wüstenwind noch zwei, drei Wochen bei uns bläst. Aber jetzt muss ich wirklich los, die Tage sind schon sehr kurz.«
Wieder hob er die Hand zum Gruß, und diesmal ging er auch.
Capaul kehrte um. Er freute sich auf Bernhilds Gesicht, wenn er ihr die Katastrophe auseinandersetzte, und wiederholte immer wieder Freitags gelungenste Formulierungen, um sie sich einzuprägen. Währenddessen hörte er im Tal das Martinshorn der Ambulanz, doch erst als er Roman oder Barbla den Kastenwagen mit Blaulicht durch Lavin steuern sah, legte er einen Zacken zu und rannte schließlich auf dem steilen Wiesenpfad. Kurz vor der Absperrung beim Parkplatz glitt er noch aus und rutschte darunter hindurch.
Roman und Barbla, die beim Auto standen, mochten darüber nicht lachen.
»Du warst nicht erreichbar«, schimpfte Roman.
»Ich habe den Geologen befragt, einen gewissen Freitag. Wir waren wohl im Funkloch. Was ist los?«
»Ein Jagdunfall auf halber Höhe am Piz Linard«, sagte Barbla. »Ein Toter.«
»Und warum fahrt ihr nicht hoch?«
»Weil der Krankenwagen mit der Leiche schon hierher unterwegs ist.«
»Aber wie kommt das?«, rief Capaul aus. »Wer hat die Leiche freigegeben? Wir hätten doch zuerst den Unfallort inspizieren und die Spuren sichern müssen.«
»Wir sind nicht auf der Polizeischule«, bemerkte Roman spitz. »Zwei Jäger haben Duris Leiche gefunden und waren nicht sicher, ob er noch lebt. Sie haben als Erstes den Notarzt alarmiert und dann Duri zur Straße geschleppt, damit er gleich behandelt werden kann. Das war durchaus vernünftig.«
»Na schön, aber damit sind alle Spuren flöten.«
Roman ließ eine Art Ächzen hören. »Massimo, nochmals: Die Engadiner sind friedliche Leute. Nicht jeder Tote bedeutet einen Mordfall.«
Dann kam der Krankenwagen über die Brücke gefahren und parkte. Die Fahrerin und der Rettungssanitäter stiegen aus und öffneten die Hecktür, um den Polizisten die Leiche zu zeigen. Sie lag im Leichensack. Der Arzt, der bei der Bahre saß, war grün im Gesicht.
»Ich vertrage die Kurven schlecht«, sagte er und drängte sich an ihnen vorbei, um auszusteigen und ein paar Schritte zu gehen.
Capaul öffnete den Reißverschluss des Leichensacks. Der Tote war in Jagdkleidung, ein kleiner, stämmiger Mann mit dichtem, grau meliertem Haar und Vollbart. Der Bart war ebenso blutgetränkt wie seine Jacke. Die Haut war ähnlich fahl wie die des Arztes. Im Gesicht waren mehrere kleine Wunden.
»Woran ist er gestorben?«, fragte Capaul.
»Verblutet«, meinte der Arzt. »Die Arteria carotis externa ist zerfetzt, die äußere Halsschlagader. Unter anderem.«
Und Roman erklärte: »Die Leiche geht jetzt nach Chur zur Obduktion. Morgen oder übermorgen wissen wir Genaueres.«
»Vielleicht geht es auch schneller«, antwortete Capaul. »Macht mal Fotos, ich rufe Fritz Marx an.«
»Wer ist das?«, fragte Barbla.
»Na, der Gerichtsmediziner. – Hier Massimo Capaul, KP Engadin«, sprach er ins Telefon.
»Ich weiß schon, die Tunnelleiche«, sagte Marx am anderen Ende. Capauls letztes Telefonat mit Marx lag nur wenige Wochen zurück. Die Erinnerung an den jungen Tiroler Mineur der Rhätischen Bahn, der zwischen Zug und Tunnelwand aufgerieben worden war, war nicht schön.
»Genau«, bestätigte Capaul. »Leider ist auch diese Leiche in ähnlicher Verfassung. Können wir dir ein, zwei Fotos mailen?«
»Klar, nur zu.«
Der Rettungsdienst hatte inzwischen die Bahre aus dem Wagen gezogen und auf dem Parkplatz aufgestellt. Roman errichtete einen Sichtschutz, Barbla knipste mit dem Smartphone. Marx gab seine Mailadresse durch, und sie schickte ihm direkt die ersten Bilder.
Marx murmelte vor sich hin, während er sie betrachtete, dann stellte er fest: »Sieht nach Schrot aus. Riech mal an den Einschusslöchern der Jacke, Capaul. Riecht es verbrannt?«
Capaul beugte sich über die Leiche und roch. »Nein.«
»Dachte ich mir, ich kann auch keine Versengungen erkennen. Macht mal noch ein Foto vom Hals.«
Capaul ließ sich vom Sanitäter Latexhandschuhe geben und hob den Bart an. »Barbla, wir bräuchten noch ein Foto.«
Barbla knipste, dann wandte sie sich ab und übergab sich. Roman übernahm es, das Foto abzuschicken.
Nur Sekunden später erklärte Marx: »Da ist noch zu viel Blut. Könnt ihr es mal eben abspülen?«
»Hat