Das einfache Leben. Ernst Wiechert

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Das einfache Leben - Ernst Wiechert


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Ge­sich­tes erstarb in er­schre­cken­der Mü­dig­keit.

      Tho­mas stand lei­se auf. »Ich dan­ke Ih­nen, Herr Pfar­rer«, sag­te er.

      »Dan­ken soll man erst, wenn man beim Mor­gen­licht nicht be­reut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meis­tens über­flüs­sig. Es kommt uns näm­lich nicht zu, ver­ste­hen Sie? Sehr we­ni­gen kommt es zu, und ich bin nicht ei­ner von den we­ni­gen.«

      Er brach­te ihn noch ans Gar­ten­tor, schloss hin­ter ihm zu und sah ein­mal zu den Ster­nen auf. »Ich war heu­te bei ei­nem Mör­der«, sag­te er halb im Fort­ge­hen. »Ja, Sie dür­fen nicht er­schre­cken, das sind so mei­ne Pf­lich­ten … Mor­gen wird er hin­ge­rich­tet. Ich saß eine Stun­de bei ihm und habe ge­be­tet. Al­lein, denn er woll­te nicht be­ten. Er woll­te auch nicht spre­chen, kein Wort. Aber ich dach­te, viel­leicht tut es ihm wohl, dass nun ei­ner da sei au­ßer den furcht­ba­ren Wän­den. Aber als ich fort­ging – der Wär­ter kam mich ho­len – und ich noch ein­mal zu­rück­sah auf sei­ne ge­krümm­te Ge­stalt, da rich­te­te er sich auf und sag­te: ›Ein Se­gen, dass es drü­ben kei­ne Pfar­rer ge­ben wird!‹ Ganz freund­lich sag­te er es … was aber muss ein Stand ge­sün­digt ha­ben, Herr von Orla, dass so et­was ge­sagt wer­den kann? Ver­ste­hen Sie? Aber es ist nicht der ein­zi­ge Stand, glau­ben Sie mir. Kei­ner von uns weiß, wie er schul­dig ist an al­lem, was ge­schieht. An al­lem, hö­ren Sie? Ja, an al­lem …«

      Dann ging er zu den hel­len Fens­tern zu­rück, und Tho­mas sah, wie ge­beugt die schwe­ren Schul­tern wa­ren.

      Spä­ter müss­te Joa­chim zu ihm, dach­te er, lang­sam die Stra­ße hin­un­ter­ge­hend. Wenn ich ein­mal ar­bei­te – und es wird si­cher­lich nicht hier sein –, dann müss­te er zu ihm und ab und zu in die­sem großen Raum sit­zen und ihm zu­se­hen. Wie sein Ge­sicht lebt un­ter al­len To­ten, die um uns sind.

      Schwes­ter Bea­te stand schon in der Woh­nungs­tür, als er die Trep­pe hin­auf­kam. »Die gnä­di­ge Frau ist krank«, flüs­ter­te sie ver­stört, »ich weiß nicht, was es ist.«

      Er ging noch im Man­tel hin­ein. Mit ei­nem schnel­len Blick um­fing er den großen Raum, die Ti­sche mit Glä­sern und Aschen­scha­len, die Fal­ten in den Tep­pi­chen, die ge­knüll­ten Kis­sen in den So­fas und Ses­seln. Der ab­ge­stan­de­ne Zi­ga­ret­ten­rauch mach­te ihm nach der rei­nen Nacht­luft übel. »Öff­nen Sie alle Fens­ter, Schwes­ter«, sag­te er lei­se. Dann ging er zum Ka­min, in dem das Feu­er noch brann­te.

      Sei­ne Frau kau­er­te in ei­nem der tie­fen Stüh­le. Sie hat­te die Füße hoch­ge­zo­gen und den Kopf auf die Leh­ne zu­rück­ge­legt. Ihr Ge­sicht war weiß und er­schöpft, mit klei­nen Schweiß­trop­fen auf der ge­fal­te­ten Stir­ne. Als er die Hand aus­streck­te, um sie auf ihr Haar zu le­gen, öff­ne­te sie die Au­gen und lä­chel­te. Ihr Blick war trü­be und fast be­wusst­los, ihr Lä­cheln wie das ei­ner ent­stell­ten Mas­ke. »Tho … mas«, flüs­ter­te sie müh­sam. Sie war be­trun­ken.

      Sei­ne Hand hielt in der Be­we­gung inne, und er starr­te re­gungs­los in ihr Ge­sicht. Er fühl­te, wie sei­ne Haut kalt wur­de und sein Mund sich in ei­nem bit­te­ren Ge­schmack zu­sam­men­zog. »An al­lem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an al­lem …«

      Sie tru­gen sie ins Schlaf­zim­mer, und Tho­mas schick­te die Schwes­ter nach ei­nem Gla­se auf­ge­wärm­ter Milch. Er blieb am Fu­ßen­de des Bet­tes ste­hen, bis sie zu­rück­kam. »Eine leich­te Ver­gif­tung«, sag­te er. »Nach die­sem wird es bes­ser wer­den, ver­ste­hen Sie? Wenn es schlech­ter wird, ru­fen Sie mich!« Er sah ihr be­feh­lend in die Au­gen, bis sie ver­stan­den hat­te.

      »Ich ma­che es nun schon al­lein, Herr Ka­pi­tän«, sag­te sie.

      In sei­nem Zim­mer setz­te er sich auf das schma­le Ru­he­so­fa und stütz­te den Kopf in die Hän­de. Er wuss­te, dass es ohne Hoff­nung war. Die Na­chern­te des Krie­ges war so er­bar­mungs­los wie sei­ne blu­ti­ge Zeit. Vor zehn Jah­ren noch wür­de er ge­glaubt ha­ben, mit dem Schiff un­ter­ge­hen zu müs­sen. Nun glaub­te er es nicht mehr. Sein Va­ter hat­te es nie ge­glaubt. »Ein Mann, Tho­mas, der sich von ei­ner Frau in den Stru­del zie­hen lässt, hat auf­ge­hört, ein Mann zu sein!« Sie hat­ten an der Lei­che ei­nes Ge­spann­knech­tes ge­stan­den, der sich er­tränkt hat­te, weil sei­ne Frau ihn be­trog. Tho­mas hat­te noch sei­ne Ka­det­ten­uni­form ge­tra­gen, aber der Va­ter hat­te ihn mit­ge­nom­men, um es ihm zu zei­gen. Er sah ihn da­ste­hen, bei­de Hän­de auf den Stock ge­stützt, und über den To­ten hin­weg auf die grü­nen Fel­der bli­cken. Wei­ße Wol­ken zo­gen wie dunkle Schat­ten über die jun­ge Saat, und in der Fer­ne hör­te man eine Sen­se den­geln. »Du wirst dich er­in­nern, Tho­mas«, hat­te der Va­ter ge­sagt. »Es wird eine Zeit kom­men, wo euer Le­ben nicht euch oder den Frau­en ge­hö­ren wird, kei­nem von euch …«

      Nun er­in­ner­te er sich. Es war nicht gut, dass der Va­ter so früh ge­stor­ben war.

      Er hol­te sich ein Kis­sen und eine De­cke aus dem Gast­zim­mer. Be­vor er das Licht lösch­te, trat er noch ein­mal an den Glo­bus. Er leg­te einen Fin­ger auf die Gip­fel des Hi­ma­la­ja und schob sie mit lei­sem Schwung zur Sei­te. Die große Ku­gel be­gann sich lei­se sur­rend in ih­rem La­ger zu dre­hen, und Ge­bir­ge, Ebe­nen und Mee­re glit­ten mit ei­nem flüs­tern­den Ton an sei­nen Au­gen vor­über. Tauch­ten wie­der auf und ver­san­ken wie­der, Farb­fle­cke und ein Netz von Li­ni­en, Licht, Däm­me­rung und Schat­ten, und er stand vor­ge­beugt, lei­se ver­wun­dert, als ste­he er auf ei­nem frem­den Stern und sehe zu, wie die alte Hei­mat vor­über­schwe­be, ganz weit, durch den ei­si­gen Wel­ten­raum, und al­les Schick­sal auf ihr sei so fremd wie ein Mär­chen aus längst ver­gan­ge­nen Ta­gen.

      Dann wur­de die Dre­hung lang­sa­mer und erstarb. Der hei­mi­sche Erd­teil brei­te­te sich vor sei­nen Bli­cken aus, und sei­nem Ab­bild wa­ren Brand und Ver­wüs­tung der letz­ten Jah­re nicht an­zu­se­hen. Ru­hig la­gen die Fest­län­der und Mee­re, die Strö­me spann­ten sich blau und dünn über die ge­krümm­te Flä­che, und das Bild der Stadt, in der er leb­te, lag als ein klei­ner dunk­ler Kreis zwi­schen Was­ser und Wald.

      Nach Os­ten aber zo­gen die großen, lee­ren Ebe­nen, im­mer lee­rer, je wei­ter sei­ne Blick ih­nen folg­ten, bis zur ver­stüm­mel­ten Gren­ze des Rei­ches, und dort, im wie­der ge­häuf­ten Blau und Grün der Seen und Wäl­der, ruh­te das Auge noch ein­mal aus, ehe das End­lo­se hin­ter der Krüm­mung der Ku­gel ver­schwand.

      1 Wohn- und Schlaf­raum auf Schif­fen <<<

      2 vor­ders­ter Teil ei­nes Schif­fes <<<

      Tho­mas war eine Nacht und einen hal­b­en Tag ge­fah­ren, als er an der klei­nen Hal­te­stel­le aus­stieg. Er hol­te sein Fahr­rad aus dem Ge­päck­wa­gen, sah hin­ter dem Bahn­hofs­ge­bäu­de ein­mal in sei­ne Kar­te, mach­te den Ruck­sack fest und fuhr die bir­ken­ge­säum­te Stra­ße hin­un­ter, den Wäl­dern zu, die blau und groß im Sü­den die Welt ver­schlos­sen. Ob­wohl das Land nicht un­ähn­lich sei­ner mär­ki­schen Hei­mat war, schi­en es ihm doch, als sei er in der Nacht über frem­de und rie­si­ge Strö­me ge­fah­ren und als sei dies hier kei­ner Erde zu ver­glei­chen, die er wäh­rend sei­nes Le­bens be­tre­ten hat­te.

      In­des er fast ge­räusch­los da­hing­litt, von ei­nem sanf­ten


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