Das einfache Leben. Ernst Wiechert

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Das einfache Leben - Ernst Wiechert


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Dann ließ sie die Hand wie­der fal­len und ging an Tho­mas vor­bei, um ein drit­tes Ge­deck zu ho­len. Sie sah ihn nicht. Ihr Ge­sicht war nicht ver­grämt oder ver­steint, son­dern er­lo­schen. Es war er­blin­det und er­taubt, aus­ge­höhlt vom Schmerz, und nur die Hül­le war noch zu­rück­ge­blie­ben, brü­chig und tot wie die Haut ei­ner Lar­ve.

      Als sie an den Tisch tra­ten und die Frau die Hän­de zum Ge­bet zu­sam­men­leg­te, mach­te Gru­ber eine Be­we­gung, als woll­te er sie hin­dern, aber dann sah er nur vor sich nie­der. Die Frau blick­te auf den Brot­korb in der Mit­te des Ti­sches, und ihre Lip­pen be­weg­ten sich, wie von ei­ner ver­bor­ge­nen Ma­schi­ne ge­trie­ben. Sie be­te­te:

       »Lie­ber Gott, sei un­ser Gast

       und sieh, was du an­ge­rich­tet hast.

       Sol­len die To­ten dir gut be­kom­men,

       alle Hei­den und alle From­men,

       und was du er­tränkt hast und ver­brannt,

       nimm es fröh­lich in dei­ne Hand!

       Amen.«

      Dann setz­te sie sich. Ihr schwar­zes, zer­schlis­se­nes Sei­den­kleid knis­ter­te bei je­der Be­we­gung, und wenn sie einen Bis­sen zu sich nahm, sah es aus, als füt­ter­ten frem­de, nicht ihr ge­hö­ri­ge Hän­de ein star­res, to­tes Göt­zen­bild. Sie sprach kein Wort und sah auch Tho­mas nicht an. Sie wuss­te si­cher­lich nicht, dass ein Frem­der am Tisch saß. Sie hat­te es längst ver­ges­sen. Vi­el­leicht sah sie ein Kind, das mit dem Ru­der durch den Wald lief, zum Seeu­fer hin­un­ter, oder sie sah die Feu­er­säu­le aus den Ge­schütz­tür­men bre­chen, oder sie sah die Ge­stalt ei­nes Got­tes, der mit blu­ti­gen Hän­den sei­ne To­ten aß. Sie war hin­aus­ge­tre­ten aus al­lem Men­sch­li­chen, und Tho­mas schi­en es, als gehe ein küh­ler Hauch von ih­rem Klei­de aus, wie von ei­nem Gr­ab­ge­wöl­be. Es frös­tel­te ihn, und er schwieg.

      Nach dem Es­sen räum­te sie den Tisch ab und kam nicht wie­der.

      »So ist es nun«, sag­te Gru­ber, als sie ihre Pfei­fen an­ge­zün­det hat­ten. »Sie­ben Jah­re, mein lie­ber Herr … sie­ben Jah­re … an­de­re wür­den trin­ken oder flu­chen, aber ich kann das nicht. Er war doch auch mein Sohn, nicht wahr? Und so bin ich doch auch schul­dig, nicht wahr? Se­hen Sie, manch­mal im Wal­de, wenn ich so vor mich hin­ge­he, dann spre­che ich für mich, laut und lan­ge, um zu se­hen, ob ich es noch kann, und ich lächle auch, denn das will man doch nicht ver­ler­nen. Ich spre­che mit ihm, wie frü­her, als wir zu­sam­men durch den Wald gin­gen. Er war im­mer fröh­lich, und wir la­chen, da­mit er nicht tot ist, ver­ste­hen Sie? Hier, im Hau­se, ist er im­mer auf­ge­bahrt, wis­sen Sie, und das will ich nicht. Der Krieg hat ihn ge­nom­men, aber er ist im­mer bei mir, und seit­dem Sie das ge­sagt ha­ben, das von Staub und Asche, da will ich wie­der ganz fröh­lich sein … so gut ist es, dass Sie ge­kom­men sind …«

      Wenn er sie sähe, dach­te Tho­mas und sah den schwe­ren Mann vor dem höl­zer­nen Chris­tus ste­hen, aber auch er wür­de nicht hel­fen … sie­ben Jah­re, und ich habe mich be­klagt? Es war ihm fast, als lieb­te er die­sen al­ten Mann, der wie­der fröh­lich sein woll­te. Das Haar fiel ihm noch schwarz in die Stir­ne, nur die Schlä­fen wa­ren weiß, und nun wuss­te er auch, wes­halb der Sohn zur See ge­fah­ren war: die Au­gen muss­ten es sein. Er muss­te die­sel­ben Au­gen ge­habt ha­ben, de­nen die Din­ge im­mer zu nahe wa­ren und die er­ken­nen woll­ten, was hin­ter den Din­gen war. Er hat­te ge­glaubt, dass man das auf dem Mee­re ler­ne, dem ein­zi­gen Ele­ment, das kei­nen Vor­der­grund hat­te. Aber er hat­te wohl nur ge­lernt, dass der Tod in al­len Ele­men­ten zu Hau­se ist.

      »Und … es gibt kei­ne Hil­fe?« frag­te er.

      Der an­de­re schüt­tel­te den Kopf. »Pfar­rer und Ärz­te«, sag­te er, »die ar­bei­ten im­mer mit den Din­gen, die für sie auf­ge­hört ha­ben, wis­sen Sie. Gott und Pf­licht und gu­ter Wil­le und so wei­ter.« Er sah sich vor­sich­tig um. »Ich bin ein ein­fa­cher Mensch«, fuhr er lei­se fort, »aber ich weiß es. Es gibt Müt­ter und Kin­der, bei de­nen man die Na­bel­schnur nicht zer­schnit­ten hat, ver­ste­hen Sie? Und so war es hier. Sie blei­ben im­mer eins, sie wer­den nie zwei. Sie hat es auch ge­wusst, als das dort ge­sch­ah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeig­te mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt ha­ben sie ihn fort­ge­ris­sen‹, sag­te sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut aus­ge­flos­sen ist … Mein lie­ber Herr, das muss man nun so las­sen, und nun ist es so gut, dass Sie hier­blei­ben und ich manch­mal ein biss­chen bei Ih­nen sit­zen darf … wie ist Ihr Name, lie­ber Herr?«

      Sein Ge­sicht war von in­nen be­glänzt, als er sich vor­beug­te und lä­chelnd in Tho­mas’ Au­gen sah.

      »Orla«, sag­te Tho­mas. »Tho­mas Orla … es ist ein mär­ki­scher Name. Aber wes­halb mei­nen Sie im­mer, dass ich hier­blei­ben wer­de?«

      »Sie sind ge­sandt, lie­ber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nen­nen. Ge­sandt wie ein En­gel des Herrn. Se­hen Sie, manch­mal in die­sen Jah­ren habe ich ge­zwei­felt, an Gott, ja, das habe ich ge­tan. Aber an den Hei­li­gen nicht. Von Kind auf war ich bei ih­nen, das ist in un­se­rem Glau­ben so, nä­her bei ih­nen mit­un­ter als bei Gott. Er ist so weit, so schreck­lich weit. Aber sie sind nahe, an un­se­rer Sei­te, denn sie ha­ben auch ge­lit­ten, eben­so wie wir, mehr noch. Aber Gott lei­det nicht, wis­sen Sie? Nun, und die Hei­li­gen, sie ha­ben Sie ge­sandt. Sie ha­ben ge­se­hen, dass ich nicht mehr wei­ter wuss­te, und da ha­ben sie mir das ge­schickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neu­es Le­ben, denn ich glau­be es. Und da­für wer­den Sie hier fin­den, was Sie su­chen. Al­les hängt zu­sam­men bei den Men­schen, gute Tat und gu­ter Lohn … Der See hier, er ist zu ver­pach­ten, oder nicht zu ver­pach­ten, son­dern der Fi­scher­pos­ten ist zu ver­ge­ben, Fi­scher und Jä­ger, bei­des zu­sam­men. Ein ru­hi­ger Pos­ten, auch wenn der Ge­ne­ral wun­der­lich ist … alle sind hier wun­der­lich … man kann le­ben da­von, be­quem le­ben, wenn man ein­fach ist. Ein klei­nes Haus auf der In­sel, mir ge­gen­über, einen Büch­sen­schuss weit, ein Rohr­dach, ein großer Herd, ein Netz­schup­pen. Und ein klei­ner Wald, ein schö­ner Wald, Jung­holz mit Fich­ten und Bir­ken und da­zwi­schen alte Ei­chen mit tro­ckenen Wip­feln, wo die Rei­her abends ein­fal­len. Und ganz al­lein, ver­ste­hen Sie? Ganz al­lein, nur Was­ser und Wald in der gan­zen Run­de. Man braucht ein Boot, um zu Ih­nen zu kom­men …«

      »Und der Ge­ne­ral?« frag­te Tho­mas. Sei­ne Pfei­fe war aus­ge­gan­gen, und er lausch­te wie in ei­nem Mär­chen. Ein Zau­ber fiel von dem al­ten Mann über ihn.

      »Ja, ihm ge­hört das al­les, lie­ber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein ar­mer Mann, bei­de Söh­ne ge­fal­len, und ich habe sie bei­de auf den Kni­en ge­hal­ten. Nur eine En­ke­lin ist bei ihm, und sie ist wie ein En­gel in dem dunklen Haus … und Sie wer­den die Stel­le be­kom­men, ich selbst will es ihm sa­gen. Der sie jetzt hat, ist ein Bol­sche­wik, ver­ste­hen Sie? Ei­ner, der ›Herr‹ ge­nannt wer­den will, und sei­ne Mut­ter hat noch Kar­tof­feln von mei­nem Feld ge­stoh­len. Und der den Ge­ne­ral einen ›Blut­säu­fer‹ nennt, und je­des Kind weiß, dass er nur Rot­wein trinkt. Nur dass Ka­no­nen in der Schloss­hal­le ste­hen und zwei Die­ner in Uni­form da­bei. Ei­nen Putsch will er ma­chen, sa­gen die Bol­sche­wi­ken, aber je­der weiß, dass die Ka­no­nen nicht ge­la­den sind.«

      »Kön­nen wir es se­hen?« frag­te Tho­mas und stand auf. »Die In­sel, mei­ne ich, und al­les … der Mond scheint doch, und viel­leicht ist mor­gen früh al­les fort und Sie ha­ben nur ge­träumt …«

      Der alte Mann lä­chel­te. »Auch


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