Nebelrache. Nancy Farmer

Читать онлайн книгу.

Nebelrache - Nancy  Farmer


Скачать книгу
hinaus aufs Meer und sofort wurde seine Oberfläche glatt wie Glas. Der Wind legte sich, und eine Wärme wie im Sommer breitete sich am Strand aus. Diesen Ton zu hören, war schöner als ein Festessen, hat mir Pater Severus später berichtet. Hunger, Kälte und Angst waren wie weggeblasen. Trotz seiner Schwäche betete er lange Zeit voller Freude, und in dieser Nacht schlief er wie ein Baby. Als er erwachte, lag vor dem Eingang seiner Höhle ein fetter Lachs neben einem Haufen Treibholz.“

      „Das war seine erste Begegnung mit einer Meerjungfrau“, fügte der Barde hinzu.

      Jack war sofort hellwach. Er hatte schon Gerüchte über Pater Severus und eine Meerjungfrau gehört, aber niemand hatte ihm Genaueres sagen wollen. Pega war überzeugt, dass die beiden eine Liebesbeziehung gehabt hatten. Sie glaubte, dass es an irgendeinem Strand eine kleine Familie aus Halbmönchen gab.

      „Diesen aberwitzigen Gedanken kannst du dir sofort wieder aus dem Kopf schlagen“, sagte der Barde, der Jacks Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. „Die Wahrheit ist wesentlich weniger aufregend.“

      „Mehrere Wochen lang fand Pater Severus beim Aufwachen Nahrung und Feuerholz am Eingang seiner Höhle“, berichtete Bruder Aiden. „Seine Kraft kehrte zurück, und allmählich kam auch das Sonnenlicht wieder. Er ging hinaus, um an seiner Hütte zu arbeiten, und stellte zu seiner großen Verblüffung fest, dass sie bereits fertig war. Sie hatte nicht die Form eines Bienenkorbs – es war eher eine Art Spirale wie das Haus einer Seeschnecke –, aber sie war groß genug, um darin leben zu können.

      Pater Severus nahm an, dass Engel über ihn wachten. Er baute einen Altar aus Treibholz und dankte Gott für seine Gnade. Dann errichtete er einen Rahmen für die Glocke. Als er sie läutete, hörte er weit entfernt einen liebreizenden Schrei und nahm erneut an, dass es sich um einen Engel handeln musste. Dies ging weiter bis zum Frühjahr, als es Zeit zum Pflanzen wurde.

      Eines Nachmittags wendete er sich nach stundenlanger schwerer Arbeit voller Dankbarkeit seinen Gebeten zu. Er läutete die Glocke. Wie üblich kam von See die Antwort. Er läutete ein zweites Mal, und diesmal erhob sich eine Kreatur aus den Wellen, hinter der Seetanggrenze, dort, wo das Wasser tief wird. Da die Sonne hinter dem Wesen stand, war es schwer zu erkennen, aber es hatte eine menschliche Form. Es hob grüßend einen Arm.

      Dann glitt es über den Seetang, und als es den Strand erreichte, robbte es voran wie ein Seehund. Pater Severus wich zurück. Dies war kein Engel, und es war auch kein Seehund, denn seine Haut war weiß wie die eines Kindes, und es hatte langes, goldenes Haar. Vom Bauch an verwandelte sich die weiße Haut in silberne Schuppen und der Rest des Körpers endete in einem Fischschwanz. Erst da begriff Pater Severus, dass er es mit einer Meerjungfrau zu tun hatte.

      Die Meerjungfrau robbte dichter an ihn heran und streifte schnell wie der Blitz ihre Schuppen ab. Sie fielen an ihr herab wie der Rock einer Frau, und sie stand auf zwei normalen Beinen vor ihm – allerdings auf dünnen und schwachen Beinen, weil sie normalerweise nicht mit ihnen lief. Ich habe mich all diese Monate um dich gekümmert, sagte sie. Ich liebe dich. Komm mit mir ins Königreich meines Vaters und lass uns Mann und Frau werden.

      ‚Retro, Satanas! Hinweg, Satan!‘, schrie Pater Severus und machte das Zeichen für die Teufelsaustreibung.

      Aber sie kam auf ihn zu, nackt wie ein Aal. Ich wurde von der Heiteren Wehklage angezogen, denn sie ruft das Herz aller Dinge. Aber als ich dich hilflos in der Höhle liegen sah, wusste ich, dass mein Schicksal mit deinem verbunden ist. Und nun komm mit mir. Jenseits der Wellen erwartet dich ein Königreich von unübertroffener Schönheit, in dem das reine Glück herrscht.

      ‚Retro! Retro!‘, schrie Pater Severus immer wieder und versuchte, sie abzuwehren.

      Sie verfolgte ihn, so gut sie konnte, aber ihre Füße waren zart und sie konnte sich nicht schnell bewegen. Pater Severus kletterte in die Felsen, wohin sie ihm nicht folgen konnte.

      Ich werde wiederkommen, sagte sie schließlich. Sieben Tage lang werde ich wiederkommen, und am achten Tag nehme ich dich mit, ob du willst oder nicht. Dann schlüpfte sie wieder in ihre Schuppen und schwamm flink wie ein Otter davon.“

      Der Draugr

      Das Licht des Spätvormittags fiel durch die Tür in das römische Haus und weckte Seefahrer in seiner Ecke auf. Der Vogel hüpfte zur Tür, streckte prüfend die Flügel aus und grunzte vor Schmerz. „Du kannst nicht erwarten, dass es nach einem Tag schon besser ist, mein Freund“, sagte der Barde. Er öffnete einen Beutel mit getrocknetem Fisch und warf etwas davon auf den Boden. Seefahrer, der ein Auge auf Bruder Aiden gerichtet hielt, hüpfte vor und schnappte nach dem Futter.

      Dem Mönch klappte vor Erstaunen die Kinnlade herunter. „Das ist wahre Zauberei, eine solche Kreatur zu zähmen.“

      „Er ist nicht zahm. Passt auf Eure Augen auf“, warnte der Barde. Der Mönch fuhr zurück, als der Albatros plötzlich bösartig nach ihm hackte.

      „Jack, mach einen Spaziergang mit unserem Freund, bevor er irgendwelchen Schaden anrichtet. Aiden und ich bereiten inzwischen das Frühstück zu.“ Jack unterdrückte ein Seufzen, doch sich zu beschweren, wagte er nicht. Den Barden konnte man nicht hetzen, und Bruder Aiden würde seine Geschichte erst zu Ende erzählen, wenn es ihm passte.

      Jack ging mit dem Vogel oben auf den Klippen entlang. Seefahrer eilte voraus und reckte begierlich den Kopf in den blauen Himmel. Nach einer Weile setzten sie sich hin und rasteten. Der Albatros schrie eine Herausforderung, und ein halbes Dutzend Möwen fiel vor Schreck von der Klippe.

      „Fühlt sich gut an, nicht wahr?“, sagte Jack kumpelhaft. „Es gibt nichts Besseres, als den Tag mit einer guten Drohung zu beginnen.“ Seefahrer brummelte etwas zurück. Der Wind trug Jack den Duft von Hafermehlkuchen zu. „Ich würde gern mal eine Meerjungfrau sehen“, vertraute er Seefahrer an, „aber eine heiraten? Ich denke mal, dass man ertrinkt, sobald man bei ihr einzieht. Was glaubst du, wie sie unter Wasser atmen?“

      Seefahrer machte ein Geräusch, das sich anhörte wie eine Mischung aus Schnurren und Krächzen. Jack war beinahe sicher, dass es die Antwort auf seine Frage war. Plötzlich stieß der Vogel einen Schrei aus und sprang von der Klippe. Fast gelang es ihm, zu fliegen, aber dann gab sein verletzter Flügel nach und er stürzte ab. Jack schlitterte die Felswand hinunter, so schnell er konnte. Unten taumelte der Vogel wie betrunken über den Strand, kreischte und klapperte mit dem Schnabel.

      „Du blödes Vieh!“, schrie Jack. „Du wirst unsere ganze Arbeit zunichtemachen!“ Und dann sah er Thorgil auf sie zurennen. Sie krächzte in Vogelsprache und verteilte im Rennen ihre Habseligkeiten über den Strand. Als sie bei Seefahrer ankam, tanzten die beiden ausgelassen umeinander herum.

      „Oh, Jack! Du rätst nie, was passiert ist!“, schrie sie. „Skakki ist hier! Mein Bruder! Er ist in der Bucht vor Anker gegangen, in der wir dich und Lucy zurückgelassen haben. Er hat versprochen, uns nach Bebbas Town zu bringen.“

      „Du sagst, dass ein Nordmann-Schiff in der Nähe unseres Dorfes ankert?“, vergewisserte sich Bruder Aiden mit vor Angst weit aufgerissenen Augen.

      „Skakki hat geschworen, uns nicht auszuplündern“, berichtete Thorgil sorglos. „Vielleicht nimmt er von woanders ein paar Sklaven mit, aber das stört ja keinen.“

      „Es stört keinen?“, schrie der Mönch. „Hörst du denn nicht die Schreie der Eltern, denen die Kinder aus den Armen gerissen werden? Hast du ein Herz aus Stein?“

      „Wir stehlen eigentlich keine Kinder“, sagte die Schildmaid. „Die halten nicht lange und es gibt auch kaum Nachfrage nach Gören.“

      „Hör auf, ihn zu ärgern“, warnte der Barde. Thorgil grinste boshaft und fischte einen Hafermehlkuchen aus der Asche. Sie hielt ein Stückchen davon Seefahrer hin, der es vorsichtig aus ihrer Hand nahm. Er traute heißen Dingen nicht mehr.

      „Ist die ganze Mannschaft mitgekommen?“, fragte Jack. Er konnte es plötzlich kaum noch erwarten, die Nordmänner wiederzusehen.

      „Die meisten“, sagte die Schildmaid, nachdem sie sich den Mund voll mit


Скачать книгу