Nebelrache. Nancy Farmer

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Nebelrache - Nancy  Farmer


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schnippen, wenn dir eine Meervettel begegnet.“

      Wenn ich dann noch lebe, dachte Jack mürrisch. Gerade kam Thorgil mit Seefahrer zurück, und es gab viel Gekrächze und Eigenlob. Seefahrer hatte ein junges Schwein aus seinem Versteck gescheucht, und Thorgil hatte es fürs Abendessen erlegt.

      „Halte sie gut fest“, warnte der Barde auf ihrem Weg über die dunklen Felder. „Wir wollen den Draugr nicht hier treffen. Erst im Haselwald – dort kann ich aus verschiedenen Quellen Kraft schöpfen.“

      Jack umklammerte die eingewickelte Glocke fester. Durch ihre Größe und Form war sie schwierig zu tragen. Das ist totaler Wahnsinn, dachte er. Wenn es nach ihm ginge, würde er die Heitere Wehklage an der tiefsten Stelle ins Meer werfen, aber der Barde hatte gesagt, dass es dafür schon zu spät war.

      Ein Kiebitz schoss unter seinen Füßen hoch, und er sprang zurück. Die Glocke gab ein leises Kling von sich, wie eine Muschelschale, die auf Gestein fällt.

      „Pass auf!“ Der Barde fuhr herum und legte die Hand auf das Bündel. „Der kleinste Laut hallt durch die neun Welten.“

      Sie hasteten weiter. Der Boden war sumpfig, und es tauchten Bäche auf, wo Jack nicht mit ihnen gerechnet hatte. Wasser drang in seine Stiefel ein. Außerdem juckte eine Stelle an seinem Rücken ganz furchtbar, und dort nicht kratzen zu können, machte ihn fast verrückt.

      Der Mond war gerade etwas über halb voll. Er schien über den weit entfernten Eichenwald und beleuchtete die Lücken zwischen den Bäumen, vor allem die Schneise, die Odin und seine Reiter in den Wald geschlagen hatten. Im Haselwald waren keine Lücken zu sehen, obwohl Jack wusste, dass es darin ein paar kleinere Grasflächen gab. Er wünschte, sie hätten Thorgil mitnehmen können. Sie würde nicht jedesmal zusammenzucken, wenn ein Vogel aufflog. Außerdem – und das gestand Jack sich nur sehr ungern ein – würde er vermutlich viel weniger zu panischer Flucht neigen, wenn sie dabei war.

      Aber der Barde hatte gesagt, dass sie diese Aufgabe überlegt angehen mussten. Sie konnten nicht riskieren, dass Thorgil wieder einer ihrer verrückten Eingebungen folgte.

      Der Haselwald ragte vor ihnen auf. Noch vom Mondlicht angestrahlt, blieben sie vor dem dunklen Schatten des Waldes stehen. „Hätten wir nicht eine Lampe mitnehmen sollen?“, begann Jack.

      Der Barde brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Sieh zu und lerne. Vielleicht wirst du dies eines Tages allein machen müssen. Und jetzt richte deinen Geist auf die Magie dieses Waldes. Hier gibt es Pfade, die das Tagauge nicht sieht.“

      Na, sehr gut, dachte Jack. Vermutlich treffe ich gleich einen Trupp Oger bei ihrem Nachtspaziergang. Ich hoffe nur, dass sie kein Problem damit haben, einen Draugr zu fressen. Er atmete tief ein. Die Luft unter den Bäumen war mit dem Geruch nach feuchter Erde und verborgenen Blüten gesättigt. Er suchte nach der Erdmagie und fand sie sofort. Alles im Wald wirkte angespannt. Jack spürte einen Hasen, der unauffällig aus einer Mulde im Boden schlüpfte, und dann war er selbst in dieser Mulde, in der sich vier winzige Kopien der Hasenmutter zusammendrängten.

      Dort war es so gemütlich, dass Jack verharrte. Er konnte beinahe spüren, wie die winzigen Pfoten zuckten, wie sich ein kleiner Mund zu einem Gähnen öffnete.

      „Schlüpfe auf keinen Fall in den Körper eines Tieres.“ Die Stimme des Barden kam von weit weg. „Das ist ein gefährlicher Trick, für den du noch nicht bereit bist.“

      Jack zog sich zurück. Genau das hätte er beinahe getan! Wie sehr hatte er den Barden immer um seine Fähigkeit beneidet, mit den Habichten zu fliegen oder mit den Hirschen zu laufen. Er selbst hatte es schon ohne Erfolg versucht, aber in dieser Nacht ging es wie von selbst. Vielleicht lag es am Haselwald.

      Jack spürte einen Igel, der am Fuß eines Baumes herumschnupperte. Doch plötzlich quiekte er auf und rollte sich zu einer Kugel zusammen.

      „Hast du das gehört?“, fragte der Barde halblaut. „Die Tiere wissen, dass etwas Gefährliches in ihren Wald gekommen ist.“

      Jack fand die Hasenmutter wieder. Sie lag geduckt auf einer Wiese. Sie wollte fliehen, aber noch stärker zog es sie zu ihren Jungen. Sie schaute auf und sah direkt in ein Paar großer, blau glühender Augen.

      „Ah!“, schrie Jack und zog sich aus dem Körper der Häsin zurück.

      „Erinnere mich daran, dich nächstes Mal zu Hause zu lassen, wenn ich mich an etwas anschleichen will“, sagte der Barde.

      „Ich … ich habe Augen gesehen“, stammelte Jack. „Sie h-haben geglüht.“ Dann fiel ihm Bruder Aidens Geschichte wieder ein. „Ach, Mist, es war nur ein Schaf.“

      „Aiden hat dir die Geschichte erzählt, nicht wahr?“, sagte der Barde. „Du hast tatsächlich ein Schaf auf der Wiese gesehen, aber was die Häsin erschreckt hat, lag dahinter.“ Plötzlich ertönte hektisches Blöken und das Geräusch von vielen Hufen, die durch Gebüsch trampelten. Die Laute verklangen allmählich. „Anscheinend ist der Draugr an Schafen nicht interessiert“, stellte der Barde fest.

      „Ich b-bitte um E-erlaubnis, H-herr, die G-glocke abzustellen und m-mein M-messer zu ziehen“, stotterte Jack, der es nicht schaffte, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten.

      „Gleich, Junge. Dein Messer wird den Draugr übrigens nicht beeindrucken. Du kannst genauso gut versuchen, Stein zu schneiden.“ Der alte Mann horchte angespannt. „Sehr interessant.“

      „W-was?“, fragte Jack.

      „Ein Pfad hat sich geöffnet, durch den ein paar sehr interessante Besucher gekommen sind. Wir können nicht riskieren, dass sie auf die Vettel treffen. Pack die Glocke aus, Junge, und läute sie.“

      „Was?“

      „Mach schnell. Wir müssen den Draugr zu uns herlocken.“

      Jack ließ die Glocke beinahe fallen, als er sie von ihrer Umhüllung befreite. Ihm war klar, dass er gehorchen musste, ohne über die Folgen nachzudenken. Er schwang die Heitere Wehklage. Der Klöppel schlug gegen das Metall der Glocke und ein goldener Ton drang durch den Haselwald, vertrieb jegliche Angst und erfüllte den Jungen mit reiner Freude. So etwas Wundervolles hatte er noch nie gehört.

      Es war, als würden die besten Augenblicke seines Lebens alle gleichzeitig ablaufen – die Zeit, als er seinem Vater beim Hausbau zugesehen hatte und seine Mutter den Bienen etwas vorsang; der Moment, als der Barde ihn gefragt hatte, ob er sein Lehrling sein wollte, oder der, als er, Thorgil und Pega sich vor den abweisenden Mauern von Din Guardi in den Armen gelegen hatten. Es war aber auch eine Erinnerung an seinen Großvater, der an seinem Bett gesessen hatte, als er fieberte, und an die Schwester von John dem Böttcher, die ihm ein Apfeltörtchen gegeben hatte, nachdem er in den Teich gefallen war. Diese Menschen waren schon lange tot. Aber in der glorreichen Musik der Glocke tauchten sie wieder vor ihm auf.

      Jack ließ die Glocke fallen. Erst da stellte er verblüfft fest, dass sein Gesicht tränennass war.

      „Deswegen nennt man sie Heitere Wehklage“, sagte der Barde leise. „Und jetzt pass gut auf. Sie kommt.“

      Sie hörten Weinen. Es klang wie eine Frau, die so sehr schluchzte, als würde ihr das Herz brechen. Es kam näher, und die Luft wurde deutlich kühler. Nebel waberte über den Boden, und ein undefinierbarer Modergeruch hüllte sie ein. Jack zog sein Messer.

      Der Barde hob im Mondschein am Waldrand seinen Stab. „Ich befehle dich her, bei Wurzel, bei Stein, bei Meer!“, rief er.

      Etwas Dunkles materialisierte sich zwischen den Bäumen. Wer ruft?, fragte eine Stimme, die sich anhörte wie rasselnder Kies.

      „Ich bin der Erbe von Amergin“, sagte der Barde. Jack schaute verblüfft auf. „Ich bin hier, um mir deinen Wunsch nach Vergeltung anzuhören.“

      Meine Liebe war innig; mein Schicksal bitter, sagte der Draugr. Meine Knochen angespült an meines Vaters Strand, seine Verzweiflung unermesslich, als er mich zu Grabe trug. Doch er hat die Grabstätte nicht versiegelt, denn ich konnte nicht ruhen. Solange mir keine Gerechtigkeit widerfährt, kann ich nicht neu geboren werden.


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