Zwei und zwei. Tessa Hadley

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Zwei und zwei - Tessa  Hadley


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ihres breiten Gürtels; Christine konnte die holzigen Noten des moschusartigen Parfüms riechen, das ihre Freundin immer trug. »Hast du Schmerzen?«, flüsterte sie. Lydia nickte, ohne Christines Hand loszulassen. Sie spürten vage die Sorge des Fahrers, der dachte, sie sei betrunken und müsse sich vielleicht übergeben.

      Zu Hause waren die Fenster erleuchtet, und Alex schaute nach ihnen aus. Als sie die Treppe hinaufgingen, hielt er ihnen schon die Wohnungstür auf. Er breitete die Arme aus, und Lydia wankte hinein.

      »Es kann nicht wahr sein, es kann nicht wahr sein«, rief er. Lange stand er so da und streichelte ihr Haar, ebenso selbstvergessen, wie er früher Isobels Haar gestreichelt hatte, als sie noch ein Kind war, und die andere Hand streckte er nach Christine aus. »Es ist aber wahr«, sagte Lydia schließlich lapidar und machte sich frei.

      Dann suchte sie nach ihrem Lippenstift, betrachtete ihre Augen in dem Spiegel aus ihrer Handtasche. »Biete ich einen grotesken Anblick? Ich sehe zum Fürchten aus.« Sie schwenkte einen Zwanzigpfundschein. »Das brauche ich jetzt, Alex, mein Schatz. Hol mir eine Schachtel Bensons.«

      Er protestierte. »Lydia, Zigaretten sind nicht das, was du jetzt brauchst. Du willst dich doch nicht wieder in diese Abhängigkeit begeben, nach so vielen Jahren.«

      »Du weißt nicht, was ich brauche, du mit deiner puritanischen Moral. Egal, Jane Ogden hat mir ihre gegeben, fällt mir gerade ein. Sie sind irgendwo hier drin.«

      »Wir brauchen einen Drink«, sagte Christine.

      Sie schenkten sich Wodka aus einer Flasche im Kühlschrank ein; mit gebrochener Stimme brachte Alex einen Trinkspruch auf ihren lieben Freund aus. Innig geliebt, sagte er, dann konnte er nicht weiterreden.

      »Sei still, Alex«, sagte Christine zittrig. »Du hörst dich an wie ein Schuldirektor.«

      Er konnte sich nicht setzen, wollte sich nicht setzen, als wäre er so aufgebracht, dass er unbedingt stehen bleiben müsste. Lydia zündete sich mit bebenden Händen eine Zigarette an. Sie beschwerte sich, der Wodka schmecke wie Gift. Ob sie denn keinen Rotwein hätten? Alex holte eine Flasche Wein für sie und schenkte ihr eilfertig ein. Als sie noch einmal versuchen wollte, Grace anzurufen, und wünschte, Christine würde mit ihr sprechen, war er entsetzt. Er erklärte mit Bestimmtheit, sie könnten ihr den Tod ihres Vaters doch nicht einfach am Handy mitteilen.

      Lydia fügte sich, düster. »Natürlich, du hast recht.«

      Er werde nach Glasgow fahren, Grace ausfindig machen und es ihr selbst sagen. Schließlich sei er ihr Patenonkel. Ihr inoffizieller Patenonkel, es war nichts Kirchliches. Wenn er jetzt losführe, wäre er am frühen Morgen da. »Zach hat ihre Adresse bestimmt irgendwo aufgeschrieben«, sagte Lydia. »Wo, weiß ich nicht. So etwas weiß immer nur er.«

      Alex rief Hannah an, die Geschäftsführerin der Galerie, die mit Zachary im Rettungswagen zum Krankenhaus gefahren war. Sie sagte, sie werde in der Galerie vorbeischauen, die Adresse müsse irgendwo in Zacharys Schreibtisch liegen oder auf seinem Telefon gespeichert sein, sie werde Alex in einer halben Stunde eine SMS schicken. Hannahs Stimme war vom Weinen belegt. Alex bat sie, sich mit allen in Verbindung zu setzen, die von der Sache wussten, damit sie es unter Verschluss hielten, bis er Grace gefunden und es ihr gesagt hatte. »Stell dir vor, sie würde das auf Facebook erfahren.«

      »Unter Verschluss halten«, murmelte Christine. »Ich kann’s nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.«

      Er schritt energisch zwischen den Lampen umher, während er das alles arrangierte; die Frauen, benommen und zusammengesunken, waren ihm im Grunde dankbar. Er war furchtlos und kompetent, er wusste, was zu tun war. Christine sollte am Morgen die Schule anrufen, an der er arbeitete, und sein Fortbleiben erklären. Bevor er aufbrach, küsste er beide Frauen, berührte ihre Gesichter auf seine vertrauliche Art mit den Fingerspitzen. Aber ihnen war auch klar, dass es ihn nach Bewegung verlangte, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, mit ihnen dort in der Wohnung zu sitzen, während sie über ihren Kummer nachsannen und ihn dabei weiter schürten.

      Alex war tatsächlich einmal Schuldirektor gewesen, an einer örtlichen Grundschule, wo die Kinder 32 verschiedene Sprachen sprachen und zu 48 Prozent Anspruch auf ein kostenloses Schulessen hatten. Als er die Direktorenstelle bekam, schien dies das natürliche Ziel seiner Karriere als fortschrittlicher Lehrer zu sein, der die Kinder begeistern konnte und von ihnen angebetet wurde. Doch in Wirklichkeit war er auf dem Posten unglücklich gewesen, nach drei Jahren wieder zu seiner Arbeit als Lehrer einer Klasse von Neunjährigen zurückgekehrt und hatte es nie bereut. Unter seiner weltläufigen, einnehmenden Oberfläche war Alex gar kein Öffentlichkeitsmensch wie Zachary. Er war zu unduldsam, wenn er auf Widerstand stieß, und trieb seine Gegner damit in eine erbitterte Opposition. Im Grunde war er ein einsamer Denker, der an den meisten seiner Kollegen kein Interesse hatte. Selbstverständlich lief seine Vision für die Schule – der zufolge alle Kinder Denker und Künstler waren – der staatlichen Bildungspolitik zuwider. Sie widersprach der Art, wie die Welt eingerichtet war. Und im Gegensatz zu Zachary war Alex nicht überzeugt, dass Fortschritt möglich war oder dass man jede Institution dauerhaft zu einer Macht ausbauen konnte. Da war ein Widerspruch, dachte Christine, zwischen seiner leidenschaftlichen Skepsis und seinem Engagement für die Kindererziehung. Er glaubte nicht daran, dass irgendetwas besser werden konnte, und war oft der Verzweiflung nahe – und doch widmete er sich mit ganzer Kraft der Entwicklung und Förderung der kindlichen Phantasie, als hinge die Hoffnung davon ab. Manchmal, wenn sie sich über ihn ärgerte, dachte sie auch, er vergesse seine Schüler in dem Moment, in dem sie die Klasse verließen.

      Wenn Lydia in Christines Wohnung war, nahm sie immer die gleiche Stellung ein, an einem Ende des Sofas, auf dem Alex vorhin sein Buch gelesen hatte. Im rosafarbenen Lampenschein lehnte sie sich so in die Kissen zurück, dass ihre sinnliche Schönheit zur Geltung kam. Zachary hatte gesagt, sie posiere wie eine Odaliske. Christine wollte sich dicht neben sie setzen, sie berühren, konnte es aber nicht: Irgendetwas hielt sie davon ab. Weil Lydia verzweifelt war, stellte sie eine übertriebene Ruhe zur Schau. »Wird das mein Ende sein?«, fragte sie, wobei sie sich eine neue Zigarette anzündete. »Hat Zachary mich definiert, bestimmt, wer ich bin? Ich glaube das nicht. Aber vielleicht muss ich jetzt umdenken. Mir vorzustellen, was ich ohne ihn wäre – die Mühe habe ich mir nie gemacht. Ich habe nie etwas ohne ihn getan, seit Jahren nicht. Ich bin überhaupt nicht kompetent. Ich weiß nicht, wie man Steuern zahlt. Ich kann nicht Auto fahren.«

      »Ach, Lyd, mach dir darüber jetzt keine Gedanken«, sagte Christine. »Natürlich bist du kompetent. Das ist nicht dein Ende.«

      »Warum nicht jetzt? Wir sollten jetzt über alles reden. Ich glaube, dieser Moment kommt nicht wieder. Als Nächstes wird sich alles zu seiner endgültigen Form verhärten. Wir vergessen, wie Zachary wirklich war.«

      »Das vergessen wir nicht.«

      »Ich fange schon an ihn zu vergessen. Etwas anderes tritt an seine Stelle: die ganze Vorstellung von seinem Tod, die so unglaublich ist. Er war nicht der Typ zum Sterben. Der Tod verdrängt bereits die wahren Empfindungen davon, was er war. Ich versuche zum Beispiel, mich an ihn heute beim Frühstück zu erinnern. Was hat er gegessen?«

      »Was hat er denn normalerweise gegessen?«

      »Als ich nach unten kam, noch im Morgenrock, hatte er schon Bagels gekauft, an die hundert Dinge erledigt. Du weißt, dass er morgens wie energiegeladen aus dem Bett springt, es ist so anstrengend. Er wacht auf und singt. Wenn man nicht so gepolt ist, wenn man ein Nachtmensch ist, kann das zermürbend sein. Wir hatten frische Bagels zum Kaffee. Er hat seine dick mit dieser besonderen Butter aus der Bretagne bestrichen, die er immer kauft, die mit den Salzkristallen drin, dann noch hausgemachte Marmelade vom Bauernmarkt obendrauf, hat alles im Stehen gegessen, seinen Kaffee runtergestürzt, immer in Eile. Kein Wunder, dass er einen Herzanfall hatte. Ich habe ihn gewarnt, ich habe ihn ständig gewarnt.«

      Ihre Blicke trafen sich, sie waren entsetzt über die verlorene Unschuld dieses Frühstücks, als sie daran dachten, dass er jetzt für immer ruhte.

      »Chris, er war so stark. Wie konnte das passieren?«

      »Ja, ich weiß – ich weiß, wie stark er war.«

      Wie


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