Zwei und zwei. Tessa Hadley

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Zwei und zwei - Tessa  Hadley


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der Automotoren an den Beinen und die harten Pflastersteine unter den Füßen, betrachtete ein Schaufenster nach dem anderen in all seinen plastischen Einzelheiten: Ballen mit afrikanischen Stoffen, Reihen von bunten Lackfläschchen im Nagelstudio, Gläser voller zinnoberroter Paprikaschoten auf den Regalen des polnischen Lebensmittelladens. All das verschaffte ihr Erleichterung: die unpersönlichen festen Formen der Welt, die auch ohne Zachary bestehen bliebe, ohne Glück, ohne sie.

      »Ich habe einen wirklich unpassenden Kerl gefickt«, gestand Grace Isobel im Bus.

      »Wen?«

      »So einen schmutzigen Typen, Dan, ein Freund von einem Freund, ich hab ihn auf einer Party kennengelernt. Als wir in seiner Wohnung ankamen, war ich schon wieder nüchtern und nicht mal scharf auf ihn, aber da hatte ich keinen Bock mehr, den ganzen Weg nach Hause zu gehen. Und rate mal, wo Alex mich gefunden hat? Ist das nicht grandios? Ich erfahre im Bett eines schmutzigen Typen, den ich nicht mal ficken wollte, vom Tod meines Vaters.«

      Isobel zuckte nicht mit der Wimper; mit all ihrer Gelassenheit widmete sie sich der Aufgabe, Grace innerlich Halt zu geben, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen, ihre Gedanken in die rechten Bahnen zu lenken – wobei sie sich allerdings fragte, wie viele Fahrgäste im Bus das mit anhörten. »Wenn du sagst ›schmutzig‹ …«

      »Ich meine nicht schmutzigen Sex. Der Sex war nichts Besonderes, soweit ich mich erinnern kann. Ich meine richtigen Schmutz, richtig an seinem Körper. Er roch so, als hätte er sich schon eine Weile nicht mehr gewaschen.«

      »Irgendwann wirst du das lustig finden.«

      »O ja, saukomisch. Erzähl bloß Sandy nichts davon, ja?«

      »Ich erzähle Sandy nie etwas.«

      »Er darf nicht wissen, dass ich so ordinär bin.«

      »Du bist nicht ordinär, du bist der am wenigsten ordinäre Mensch, dem ich je begegnet bin. Du bist einfach« – Isobel suchte nach dem passenden Wort – »eine Abenteurerin. Bei allem, was du tust. Wie ein Forscher, der sich auf unbekanntes Terrain vorwagt. Ich wünschte, ich wäre mehr wie du. Ich wünschte, ich wäre nicht so vorsichtig.«

      Tränen quollen unter Grace’ Lidern hervor, als sie sich wegdrehte und aus dem Busfenster starrte; sie wirkte verzweifelt. »Weiß Sandy Bescheid?«, beharrte sie. »Ich meine, weiß er von Dad? Hat es ihm jemand gesagt? Ist er immer noch mit dieser Italienerin zusammen?«

      Isobel sagte, ihre Mutter habe Sandy angerufen; vielleicht komme er am Abend vorbei. Soweit sie wisse, sei die Sache mit der Italienerin aus.

      »Glaubst du, er kommt?«, fragte Grace. »Sollen wir ihn nicht anrufen? Nur zur Sicherheit?«

      »Wenn er kann, wird er da sein.«

      Isobel begriff, dass Grace diese altbekannte Geschichte – von ihrer langen, verzehrenden, unerwiderten Leidenschaft für Sandy, Isobels Halbbruder – vor allem deshalb aufwärmte, um nicht mehr an ihren Vater denken zu müssen. Als sie in der Wohnung ankamen, lief Grace herum und stieß bei allen Neuerungen kleine Schreie aus – Isobel hatte die Küche neu gestrichen, auf eBay ein Ercol-Sofa gekauft. Die kleine Wohnung war eigentlich nichts Besonderes – die Räume waren niedrig und die Küche ein schmaler Schlauch –, aber Isobel hatte sie so eingerichtet, dass sie luftig und behaglich wirkte. Auf dem Sofa, das auch als Gästebett diente, lagen allerlei hübsche Kissen. Grace öffnete den Kühlschrank – randvoll mit Gemüse vom Bauernmarkt – und dann den Kleiderschrank, als ob sie etwas suchte. Isobel kaufte liebend gern Kleider, aber sie hatte einen zurückhaltenden Geschmack, trug Röcke, Strickjacken und flache Schuhe. Grace trug Vintage, schlampige Armeehosen oder dramatisches Satin und wechselte ständig den Look, als wäre ihre Erscheinung eine immerwährende Kunstausstellung.

      »Es ist alles so ruhig hier. Blumen auf dem Tisch. Das gibt mir Ruhe«, sagte sie und strich über die blauen Skabiosenblüten. »Mal was anderes als mein schäbiges Studentenleben.«

      »Zu ruhig«, sagte Isobel. »Ich könnte einen Mann gebrauchen, der ein bisschen Unordnung macht.«

      »Einen schmutzigen Mann.«

      »Einen richtig schmutzigen Mann. Gracie, willst du das wirklich machen mit der Totenmaske?«

      »Findest du das zu bizarr? Es ist makaber, nicht wahr? Ich schau mir mal Totenmasken auf deinem Laptop an.«

      »Sei vorsichtig, sei bitte vorsichtig. Du weißt nicht, was du da zu sehen bekommst.«

      Isobel wich ihr nicht von der Seite, schaute ihr über die Schulter, während Grace einige Masken – die von Oliver Cromwell und Blaise Pascal – fand, dann ein paar Websites von Bestattungsunternehmen und dann ein Foto aus dem späten 19. Jahrhundert, das die Anfertigung einer Totenmaske in einem an eine Barbierstube erinnernden Raum zeigte. Die Gesichter der lebendigen Männer auf dieser herrlichen alten, silbrigen Aufnahme waren markant und von Trauer erfüllt, verklärt in der Hingabe an ihre Arbeit. »Siehst du«, sagte Grace. »Das ist doch etwas Schönes. Es ist würdevoll.«

      Isobel hatte immer noch Bedenken. »Aber ich glaube trotzdem nicht, dass du das machen könntest, nicht bei deinem eigenen Vater. Ich glaube, das ist zu persönlich.«

      »Seltsam, nicht wahr, dass diese Männer auch schon lange, lange tot sind: die Männer, die die Maske gemacht haben. Ein Foto ist ja auch eine Art Totenmaske. Ein Foto könnte ich wohl schon von Dad machen. Ein Foto von ihm als Toten. Das wäre leichter. Dann würde meine Mutter nicht so ausrasten. Ich könnte ihn mit meinem Handy fotografieren. Und das Bild später auf Partys schmutzigen Typen zeigen und gucken, ob sie sich davor gruseln. Hey Leute, könnt ihr damit umgehen?«

      »Ganz schön gruselig.«

      Isobel kochte in der Küche Tee, und als sie mit zwei Bechern zurückkam, hatte Grace die Kissen auf den Boden geworfen und lag mit dem Rücken zu ihr auf dem Sofa, das Gesicht zur Wand gedreht. Isobel stellte den Tee hin, streifte die Schuhe ab und legte sich zu ihr. Sie wusste, dass Grace ins Leere starrte. Als sie ihre Freundin berührte, meinte sie eine Blockade in ihrem Rücken zu spüren, eine Art Damm zwischen den Schulterblättern; irgendeine Kraft, die eigentlich durch Grace hindurch fließen sollte, konnte nicht entweichen und staute sich in ihr auf. Isobel massierte sie sanft, um den Schmerz wegzuzaubern.

      Bevor sie am Abend mit dem Essen begannen, schenkte Alex ihnen wieder von dem Stará myslivecká ein, Zacharys Lieblingswodka, und sprach ein paar Worte. Christine starrte auf ihren Teller, die anderen folgten Alex mit ihren Blicken, als wollten sie ihn damit zwingen, die rechten Worte zu finden. Er sagte, Zachary sei ein Mensch gewesen, der immer gewusst habe, wie man etwas richtig anpackt, und nun, da er nicht mehr sei, müssten sie das irgendwie ohne ihn bewerkstelligen, so gut sie eben könnten. Zachary habe die Kunst geliebt, eine Kunst, die nicht stumpfsinnig oder aufgesetzt sei. Er sei ein außergewöhnlich scharfsinniger Mensch gewesen mit einem einzigartigen Traum, in dessen Zentrum die unvergleichliche Garret’s Lane Galerie gestanden habe, mit der Vision einer Kunst, die jedermann offensteht. »Für uns aber«, sagte Alex, »für seine Familie und seine engen Freunde, die hier um diesen Tisch versammelt sind, bedeutet sein Verlust sehr viel mehr, so viel, dass wir es noch gar nicht ermessen können. Ich persönlich würde in seinem Tod gern einen weiteren Beweis für das beschissene oberste Lebensgesetz sehen, das uns immer das Beste nimmt und das Schlechteste bestärkt. Aber wie Zachary nun mal ist, will er mir das irgendwie nicht erlauben. Ich spüre ständig seinen Widerstand und seine Kraft, die zum Guten drängt, und seinen Glauben daran. Und dabei weiß ich gar nicht, wie ich das spüren kann, weil er ja nicht mehr ist.«

      Isobel musste weinen und verdeckte ihr Gesicht mit der Serviette, Sandy wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Lydia berührte Alex dankbar am Arm und vergrub kurz ihr Gesicht an seinem Hemd – doch als sie wieder aufsah, waren ihre Augen weiterhin trocken, wachsam und glänzend. An dem Abend waren auch Hannah von der Galerie mit dabei, Zacharys jüngerer Bruder Max und Nathan Kearney, Zacharys und Alex’ alter Freund aus ihrer Studienzeit. Die Gegenwart von Max und Grace hatte etwas Gespenstisches, weil beide so große Ähnlichkeit mit Zachary hatten: der rosige Teint und das drahtige schwarze Haar, der leuchtend rote Mund und die laute Stimme, seine Ausstrahlung von Güte und Kraft. Max aß


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