Zwei und zwei. Tessa Hadley

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Zwei und zwei - Tessa  Hadley


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Bart eines Propheten, wenngleich Max in Wirklichkeit nicht die Entschlossenheit seines Bruders hatte; er war überaus empfindlich, nicht entscheidungsfreudig.

      Alle aßen etwas von der Lasagne auf ihrem Teller, sie waren tatsächlich hungrig. Beim Geräusch der auf dem Porzellan kratzenden Gabeln und klingenden Gläser war es, als kehrte das vertraute Leben in ihren Kreis zurück, wie angeschlagen und gedämpft auch immer, und sie begannen zu reden. Nathan Kearney, der sie alle seit Ewigkeiten kannte – er arbeitete als Filmkritiker und war manchmal im Fernsehen zu sehen –, war gewöhnlich nicht zu bremsen, konnte aber nicht über Zachary sprechen. Er beugte seinen großen Kopf tief über den Teller, das strähnige Haar hing herunter wie ein Vorhang und verbarg den Ausdruck seines Gesichts, und er beteiligte sich erst wieder am Gespräch, als sie sich auf dem sicheren, trockenen Boden von Kunst und Politik befanden.

      Lydia schob den Rest ihres Essens zur Seite.

      »Du musst essen«, sagte Alex sanft und besorgt. Er war zuvor in ihrer Wohnung gewesen, um ihr Kleider zum Wechseln und Waschzeug zu holen.

      »Ich weiß. Morgen werde ich essen.«

      Er legte den Arm um Lydia, zog sie an sich und widmete sich mit der anderen Hand seiner Lasagne, wedelte mit der Gabel, wenn er sprach. Christine war ihm dankbar, dass er die Regie übernahm. Grace hatte, während sie bei Isobel war, etwas Merkwürdiges getan: Sie hatte ihre dicken Locken vollständig abgeschnitten – zum Zeichen der Trauer um Zachary, wie sie sagte –, sodass das seidige Unterhaar zu sehen war, das sich dicht um den Schädel ringelte wie bei einem geschorenen Lamm. Isobel verteidigte Grace standhaft und sagte, das sei doch eine schöne Idee. »Und ich hätte sie sowieso nicht davon abhalten können.«

      Lydia bemerkte trocken, es sehe nicht allzu schlecht aus. »Zum Glück hat sie einen wohlgeformten Kopf.«

      Grace fragte inzwischen Sandy nach seiner Musik aus, fieberhaft flirtend, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen, was ihn in Verlegenheit brachte, weil sie ihm so leid tat. Er war derart entsetzt über das, was passiert war – und über Grace’ nackten Kopf –, dass er seine übliche charmante Selbstsicherheit verloren hatte. Er wollte sich in einem solchen Moment nicht über seine eigenen Erfolge auslassen; immer wieder wanderte sein Blick unbehaglich von Grace fort, er lachte selbstironisch, als sie versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. Grace überforderte ihn. Er mochte sie, konnte aber mit ihrer Verliebtheit nicht umgehen, denn sie war nicht sein Typ: Sie war ihm zu jungenhaft mit ihrer maskulinen Forschheit, er stand auf kultivierte, besonnene Frauen. Sandy selbst sah auf eine geschmeidige und verdrossene Art gut aus, reserviert, als hielte er etwas zurück – vielleicht für seine Auftritte auf der Bühne. Er spielte in einer Band, die ganz groß herausgekommen war. Sandy war berühmt. Nur in seiner eigenen Familie wurde er nicht mit Bewunderung, nicht als Star behandelt.

      Nachdem Sandy gegangen war, fiel Grace’ Lebhaftigkeit in sich zusammen. Lydia rief sie in klagendem Ton zu sich, klopfte neben sich aufs Sofa, und Grace legt sich zu ihr, den Kopf im Schoß ihrer Mutter. Jemand stellte die Fernsehnachrichten an. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt ertragen kann«, sagte Christine, aber sie blieb an der Tür stehen, als wäre sie auf dem Weg hinaus. Alex schaute sich immer die Nachrichten an; in ihm lag eine kalte Wut bereit, die auf jeden neuen Skandal ansprang. Sie sahen Bilder von den Ereignissen in Calais, wo verzweifelte Flüchtlinge versuchten, auf Lastwagen aufzusteigen oder im Schutze der Dunkelheit in die Tunnel einzubrechen, um so nach England zu kommen; ein Mann lag auf einem Zugdach, Arme und Beine ausgestreckt. Der Anblick brannte sich Christine in die Seele; das Horrorbild dieser tiefschwarzen Seesterngestalt, dunkel gegen die Dunkelheit – wer war das, was sollte aus ihm werden? – mischte sich in ihrem Bewusstsein mit ihrem eigenen Leid. Doch sie wusste, es war unanständig, den privaten Verlust ihres Kreises mit dieser öffentlichen Schande zusammenzubringen. Ihre Welt war noch in der Trauer privilegiert; Zacharys Tod hatte keine moralische Bedeutung, er war kein Unrecht. Und doch vernichtete er sie alle.

      Im Schlafzimmer war es stickig, als Christine sich auszog; sie schob das Dachfenster auf, so weit es ging, und von draußen wehte die heiße Nacht herein, verpestet und grießig. Christine war sich nervös der anderen bewusst, die unten in der voll belegten Wohnung schliefen oder auch nicht schliefen: Lydia im Gästezimmer, Max auf dem Sofa. Die Mädchen waren mit einem Taxi in Isobels Wohnung zurückgefahren. Alex hatte Max auf dem Klappbett in Christines Atelier unterbringen wollen und war überrascht, als er die Tür abgeschlossen fand. Christine hatte den Kopf geschüttelt, als er sie fragte, ob sie wisse, wo der Schlüssel sei. »Max kann doch auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen.«

      Sie und Alex lagen im Dunkeln wie Statuen nebeneinander, im Schlafanzug auf dem Rücken, mit ausgestreckten Beinen und aufgerichteten Füßen; sie starrten nach oben ins Nichts, ohne sich zu berühren – und doch spürte Christine die Hitze seiner Haut, die ihre versengte. Der Schlaf schien sehr fern. »War es seltsam, in ihrer Wohnung zu sein?«, fragte sie. »Als du Lydias Kleider geholt hast. Zacharys Sachen müssen doch überall herumgelegen haben.«

      Lydia und Zachary wohnten in einem umgebauten Gemeindehaus, das in die kleine Kirche überging, die jetzt eine Kunstgalerie war. Die schmucklosen hohen Decken und die großen Bogenfenster mit den welligen grünlichen Scheiben, die alten Kacheln und der Messinghahn in der Küche, der elegante ultramoderne Umbau hatten Christines Neid geweckt. Sie und Alex hätten sich ein so edles Ambiente nicht leisten können.

      »Ich war vollauf damit beschäftigt«, sagte Alex, »alles zusammenzusuchen, was Lydia haben wollte. Dann habe ich draußen Stimmen gehört und war mir völlig sicher, dass Zachary nach Hause kommt. Bis mir einfiel, dass das nicht sein kann.«

      Sie tastete nach seiner Hand, die zwischen ihnen auf dem Laken lag; er nahm ihre fest in seinen heißen, trockenen Griff. Sie hielten nicht oft Händchen. Christine zeigte ihre Gefühle nicht gern; Alex meinte, Händchenhalten sei etwas für Kinder, nicht für Männer, wenn sie Frauen berührten. Im Übrigen redeten sie auch nicht oft so vertraulich miteinander, jetzt nicht mehr. Manchmal erschien es Christine, als hätten sich die langen Jahre der Vertrautheit wie eine Membran über ihre Kehle gelegt, sodass sie nicht mehr so leicht mit ihm sprechen konnte und sich deshalb verborgen hielt. Doch jetzt mussten sie liebevoll miteinander umgehen, koste es, was es wolle.

      »Es war gut, dass du nach Glasgow gefahren bist, um es Grace zu sagen«, begann sie. »Das war sehr nett von dir.«

      »Was Lydia sich bloß gedacht hat!«

      Sie mahnte ihn flüsternd zur Vorsicht, vielleicht könne Lydia sie hören, sie sei ja gleich unten. Alex sprach leise mit heiserer Stimme weiter. »Allein der Gedanke, ihrer Tochter das wie nebenbei mitzuteilen, am Handy!«

      »Lydia kann jetzt natürlich nicht klar denken.«

      »Sie ist gefährlich, wenn sie nicht klar denkt.«

      Das war auch so ein Muster bei ihnen: Er kritisierte Lydia, und Christine verteidigte ihre Freundin. Alex hatte manchmal, früher, durchblicken lassen, Lydia sei zu oberflächlich, um Zachary so glücklich zu machen, wie er es verdiente. »Für sie ist das eine Katastrophe. Unsere Aufgabe ist es, uns um sie zu kümmern«, sagte Christine.

      »Ich möchte mich um sie kümmern.«

      »Ich weiß, sie spürt das. Sie weiß es zu schätzen.«

      Alex drehte sich um, wandte sich ihr im Dunkeln zu; er legte seine Hand auf ihre Pyjamajacke, auf ihre Brust. Christine war entsetzt, wie sehr es ihr widerstrebte, mit ihm zu schlafen. Sie sollten sich doch einander öffnen. Alex hatte recht, auf seinen Instinkt war Verlass, er war weitherziger als sie. Halb sehnte sie sich nach dem Trost, den er ihr geben wollte, und danach, ihm Trost zu spenden. Es war wie am Vortag, als er wollte, dass sie sich die Musik ganz zu Ende anhörte. Ihr Verstand sagte ihr, dass Sex und Tod Teil des Mysteriums von Eingang und Ausgang waren, dass beides an denselben fremden Ort führte, an den sie jetzt alle gehörten, im plötzlichen Schatten von Zacharys Tod. Doch ihr Körper widersetzte sich dem Verstand und verspannte sich gegen ihren Mann, es war wie ein Rückzug in das eigene Fleisch, ein Verstecken in dessen versiegelter Kammer, ein erbittertes Wehren gegen jede Verletzung. Sie wollte versuchen ihm zu erklären, dass sie keine Berührung ertragen konnte, nicht jetzt, noch nicht, aber sie schaffte es nicht, die Worte blieben in ihrer Brust


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