Zwei und zwei. Tessa Hadley

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Zwei und zwei - Tessa  Hadley


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nahm das hin, denn er verstand, dass ein Gespräch für sie schwierig war. Dann holte sie ihr Handy hervor und verschickte SMS. »War das dein neuer Freund?«, fragte er.

      »Um Himmels willen, nein«, sagte sie. »Nur so ein Typ, den ich auf einer Party kennengelernt habe.«

      Er wollte sie ermahnen, sie solle sich von Typen fernhalten, die sie auf Partys kennenlernte, sie gehöre in eine höhere Sphäre, weil sie ein ganz besonderes, seltenes Wesen sei. Aber dafür war jetzt nicht der rechte Moment. Stattdessen sprach er von seinem eigenen Vater, der gestorben war, als Alex etwa in ihrem Alter war. Grace wiegte sich weiter in ihrem Sitz und hörte aufmerksam zu, obwohl sie vermutlich kaum einen Zusammenhang sah zwischen dem, was ihr jetzt widerfuhr und ihr Leben aus den Angeln hob, und seiner alten, von der Zeit abgeschliffenen Geschichte.

      Als er endlich vor der Wohnung parkte, sah er, wie sie sich bei der Aussicht auf die Begegnung mit ihrer Mutter – oder überhaupt einem anderen Menschen – verkrampfte. Als er sie berührte, war der Muskelknoten in ihrem Nacken eisenhart. Oben in der Wohnung war es, als hätten die Frauen sich nicht von der Stelle gerührt, seit er sie verlassen hatte: Lydia an ihrem Stammplatz auf dem Sofa, Christine – die jetzt ein dunkles, marineblaues Kleid trug, vielleicht die unbewusste Wahl einer Trauerfarbe – in dem großen Sessel. Sie wich seinem Blick aus – in Ausnahmesituationen versteckte sie sich lieber hinter ihrer gewohnten Ironie. In dem dunklen Kleid wirkte ihr Gesicht eingefallen, das Fleisch schlaff. Womöglich hatte sie gar nicht geschlafen. Sie tranken nun Kaffee statt Alkohol, das war die einzige Veränderung – und Isobel war dazugekommen, sie stand am Kaminsims, ihrem Spiegelbild in dem vergoldeten Spiegel den Rücken zugewandt, und wartete ruhig und bekümmert. Als Grace hereinkam, noch immer ihren Rucksack umklammernd, ging sie direkt auf Isobel zu, die ihre Arme ausbreitete. Die beiden jungen Freundinnen verhielten sich so spontan in ihrem Leid, dass ihre Mütter daneben wie erstarrt wirkten.

      Es hing eine unerträgliche Erwartung in diesem Raum, in dem Zachary eine Leere hinterlassen hatte, die nicht zu füllen war. Noch vor so kurzer, so greifbar naher Zeit hätten sie darauf warten können, dass er zur Tür hereinkam; sie konnten sich lebhaft vorstellen, konnten sich ausmalen, wie er unter lautstarken Beruhigungen hier eintrat, scherzend, ganz verwirrt von ihren bedrückten Gesichtern. Er war doch immer über alles auf dem Laufenden, hatte immer so viele Neuigkeiten zu verkünden. Es schien unmöglich, dass er nichts von dieser neuesten Nachricht wusste, seinem eigenen Tod.

      »Wo ist Dad?«, fragte Grace. »Ich will ihn sehen.«

      Lydia versuchte ihr das auszureden. »Das ist nur sein leerer Körper, Liebling, er selbst ist nicht mehr da.«

      »Ich liebe seinen Körper. Ich will mich von ihm verabschieden.«

      Dann kündigte Grace an, dass sie eine Totenmaske anfertigen wolle, damit sie später das Gesicht ihres Vaters in Stein meißeln könne. »Ich habe das auf dem ganzen Weg von Glasgow hierher geplant«, sagte sie. »Ich weiß, wo ich erfahren kann, wie man das richtig macht. Ich kenne jemanden, den ich fragen kann.«

      »Als wäre das alles noch nicht grotesk genug«, sagte Lydia schaudernd.

      »Wir sollten nichts überstürzen«, versuchte Alex zu beschwichtigen. »Lasst uns darüber nachdenken.«

      Es werde wohl eine Obduktion geben müssen, meinte er.

      »Ich würde gern bei der Obduktion dabei sein«, erbot sich Grace prompt.

      »Das ist nicht möglich, mein Liebes«, erwiderte er kategorisch. »Nicht möglich und auch nicht wünschenswert.«

      Christine stellte Essen auf dem Küchentisch bereit, aber alle wollten nur Kaffee, den sie tranken, bis er giftig schmeckte. Am Nachmittag begann das Telefon zu klingeln und hörte nicht wieder auf: Freunde, die etwas gehört hatten, oder Künstler, mit denen Zachary gearbeitet hatte und die sich diese Nummer besorgt hatten. Mit Zacharys Bruder hatte Lydia bereits gesprochen, aber es gab noch viele andere, die informiert werden mussten. Alex trug das Telefon nach nebenan ins Arbeitszimmer; wieder und wieder, geduldig bei jedem neuen Schock, musste er die Geschichte erzählen, wie Zachary im Büro umgekippt war und Jane Ogden und Hannah mit ihm ins Krankenhaus gefahren waren. Im Wohnzimmer konnten ihn alle hören. Während er sprach, saßen sie schweigend da, als müssten sie die Geschichte immer wieder hören, mit jedem Anrufer das Staunen neu erleben. Grace hockte, die Stirn an die Knie gelehnt, auf dem Boden; Isobel saß dicht neben ihr auf dem Sofa, die Hand auf Grace’ Haar. Die Mädchen standen sich seit ihrer Kindheit sehr nahe, obwohl sie grundverschieden waren: Grace in ihrer atemberaubenden jungenhaften Schönheit schroff und unbedacht, Isobel stets ausgeglichen und zurückhaltend. Sie hatte als Beamtin im Wohnungswesen blitzschnell Karriere gemacht. Ihre grünen Augen lagen weit auseinander, ihre Haut war rein, ihr hellbraunes Haar zu einem weichen Knoten aufgesteckt.

      »Ich habe mich wegen der Maske erkundigt.« Alex hockte sich vor Grace hin und fasste ihre Hände. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Warte ab, wie du morgen früh darüber denkst.«

      »Das meiste findet man im Internet«, sagte Grace. »Aber ich muss noch mit jemandem sprechen, der weiß, wo man den richtigen Gips herbekommt.«

      »Habe ich dabei nicht auch ein Wort mitzureden?«, fragte Lydia.

      »Wartet doch erst mal ab, wartet erst mal ab«, begütigte Christine.

      Lydia wollte über Geld reden. Ob Zachary eine Lebensversicherung gehabt habe? Sie habe keine Ahnung, um all das habe immer er sich gekümmert. »Wie kannst du nur?«, sagte Grace. Als Lydia sich mit einer Schlaftablette in ihr Bett im Gästezimmer zurückgezogen hatte, versuchte Christine Grace zu erklären, warum sich ihre Mutter so ungeschickt benahm. »Das brauchst du mir nicht zu sagen«, erwiderte Grace und schob sich die Locken mit beiden Händen aus der Stirn, als würde ihr das beim Denken helfen, sodass sich ihre herben Gesichtszüge unverhüllt zeigten. »Ich hab’s begriffen. Ich verstehe das.«

      Grace und Isobel machten sich auf den Weg zu Isobels Wohnung in Queen’s Park, wo Grace übernachten würde – es waren nur zwanzig Minuten mit dem Bus, sie beteuerten, sie wollten nicht hingefahren werden und bräuchten auch kein Taxi. »Ich will normal sein«, sagte Grace. Am Abend würden sie zum Essen zurückkommen, damit sie alle wieder beisammen wären. Als sie fort waren, nahm Christine eine Lasagne aus dem Tiefkühlfach. Dann stand sie ein paar Minuten allein unter dem schrägen Dach ihres Schlafzimmers. Nein, es war nicht wie ein Stein, dieses Leid, das über sie hereingebrochen war: Ein Stein war kalt und still, man konnte ihn einkreisen, doch dieser Schmerz schwoll in ihrem Inneren an und ebbte wieder ab, um dann erneut unkontrollierbar anzuschwellen; sie fühlte sich hilflos angesichts seiner Gewalt, ihr gewohntes Ich zerstört und verloren, das Innere nach außen gestülpt. Sie rief mit gedämpfter Stimme nach Alex, er möge nach oben kommen. Sie sprachen flüsternd miteinander. »Hast du etwas dagegen, wenn ich kurz für eine halbe Stunde rausgehe, während Lydia schläft? Hast du ein Auge auf sie? Ich muss mich bewegen.«

      Er berührte mitfühlend ihr Gesicht; das Fleisch unter ihren Augen war vom Weinen und vor Müdigkeit geschwollen. In Krisenzeiten war Alex stark, und sie verließ sich auf ihn; es war eine Form von Trägheit, ein praktisches Arrangement zwischen ihnen. Und ihm war es auch recht, dachte sie, ab und zu in die Rolle des Beschützers zu schlüpfen. Weder sie noch Lydia waren konventionelle Persönlichkeiten, sie bezeichneten sich als Feministinnen, doch in ihren Beziehungen zu Männern hatten beide ein Muster gewählt, das fast so aussah wie die Ehe ihrer Mütter, abhängig und behütet; sie führten ihr heimliches Leben in dem Schutzpanzer der Weltgewandtheit und Kompetenz ihrer Ehemänner. Jetzt war Lydias Panzer aufgebrochen worden, und sie stand ungeschützt da, allein.

      Christine trug nicht oft Make-up, aber heute wollte sie ihr Gesicht nicht ungeschminkt draußen zeigen. Als die Schublade ihrer Frisierkommode klemmte, bekam sie einen Wutanfall und zerrte so heftig daran, dass die Schublade herausflog und ihren blödsinnigen Inhalt verstreute. Sie sah sich das Durcheinander an, dann hockte sie sich hin, um alles aufzusammeln – die Eyeliner, Haarspangen, Lidschatten, Cremetuben, Beutel mit Enthaarungscreme, Verdauungspastillen, längst nicht mehr benötigten Verhütungsmittel – sogar ein paar alte Tampons aus der Vergangenheit, die Papierhüllen zerfleddert und schmierig. Eine schmutzige, fettige Pulverschicht vom Boden der


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