Phantomschmerzen. Susan Hill

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Phantomschmerzen - Susan Hill


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einer Stunde angerufen, um mitzuteilen, dass sie eine Rolle im neuen Musical hat und die Hauptrolle mit zwei anderen Mädchen teilt. Sie ist außer sich vor Aufregung. Sehe, dass bei euch eine Hitzewelle herrscht. Hier nicht. Hoffe, dir geht’s gut. C.

      Er las die Nachricht zwei Mal durch. Cat, ihre Familie, das Bauernhaus. Lafferton. Auf einem anderen Planeten. Zurückzukehren kam nicht in Betracht. Ihm gefiel sein Leben hier. Er hatte Delphine. Aber irgendwie fühlte er sich nicht zugehörig, als wären sein wahres Selbst und sein wahres Dasein noch so wie früher, zu Hause in Hallam House, zuerst mit Meriel, dann mit Judith.

      Er hatte oft versucht, sich vorzustellen, wieder zu Hause zu leben. Das Haus war noch da, vermietet, wäre aber innerhalb von zwei Monaten wieder sein Eigen, falls er zurückkehren wollte. Die Familie war dort. Nichts hatte sich verändert, bis auf die normale Tatsache, dass das Leben weiterging, Menschen aufwuchsen, älter wurden, heirateten, starben. Neue Häuser wurden errichtet und alte Gebäude abgerissen. Neue Straßen wurden gebaut und veränderten eingefahrene Reisestrecken. Nicht mehr. Oder weniger.

      Er konnte nicht zurückkehren. Vielleicht in ein, zwei Jahren, nicht jetzt – obwohl … er verdrängte die Erinnerung, sobald sie aufzutauchen drohte –, nicht, nachdem er beinahe wegen Vergewaltigung unter Anklage gestellt worden wäre. Beinahe. Weil er Shelley natürlich nicht vergewaltigt hatte, sie hatte sich ihm aufgedrängt, als er schwach und dumm gewesen war, in ein paar vernebelten Momenten. Das war’s. Der Rest war eine aufgeblasene Anklage und Rachsucht gewesen. Das wusste er. Auch andere wussten es. Trotzdem wurde er noch immer als »Vergewaltiger« geteert und gefedert von allen, die es wussten, und die Erinnerung hielt lange an. Eine falsche zwar, aber sie blieb.

      Er hatte keine Ahnung, ob Shelley und ihr Mann noch immer in Lafferton wohnten, fragte sich jedoch hin und wieder, ob er es herausfinden sollte. Wenn sie weggezogen waren, könnte er ab und zu nach Hause fahren, obwohl er bezweifelte, jemals wieder in Lafferton leben zu wollen.

      Bevor er ins Bett ging, schaute er zu Delphine hinein. Sie schlief, ihr Gesicht war geschwollen und rot, sie atmete mühsam durch die verstopfte Nase. Ihr verletzter Arm lag auf der Bettdecke, und ein wenig Blut drang noch immer durch den Verband. Sanft berührte er ihre Hand und hatte das Gefühl, ein verletztes Kind zu beschützen. Sie regte sich, wurde aber nicht wach.

      Er legte sich eine Weile hin, bestürzt über die Gefühle, die ihr Unfall und der Anblick gerade in ihm aufgewühlt hatten, große Zärtlichkeit und …

      Und er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es etwas Ungewohntes war, neu und verstörend.

      7

      Wookie knurrte, ein tiefes Grummeln, das eher aus seinem Bauch als aus seinem Hals zu kommen schien, aber er rührte sich nicht und machte kein Auge auf.

      Dreißig Sekunden danach bog Kierons Wagen in die Auffahrt. Wookie knurrte wieder.

      »Dummer Hund.« Cat hatte die Füße auf dem Sofa und war fast mit Flauberts Papagei fertig, dem Buch, das in dieser Woche noch im Literaturkreis besprochen wurde.

      »Wärst du fünf Minuten später gekommen, hätte ich dir meine volle Aufmerksamkeit schenken können, nur jetzt musst du warten, weil ich auf der vorletzten Seite bin.«

      Er kam zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Ich sage nichts. Was zu trinken?« Sie nickte und schlug die Seite um.

      Wookie grummelte weiter, Kieron brachte zwei Gläser Wein, stellte sie auf den niedrigen Tisch und setzt sich neben Cat. Der Terrier erhob sich, rückte auf die andere Seite des Sofas und knurrte weiter vor sich hin.

      »Wann wirst du dich endlich an mich gewöhnen und aufhören zu knurren, Wooks?«

      Cat las noch eine Minute weiter und klappte das Buch dann zu.

      »Beachte ihn einfach nicht.«

      »Ich wohne hier seit Monaten, und noch immer behandelt er mich wie einen Einbrecher.«

      »Würde so einen nicht sehr beeindrucken.«

      »Wenn ich in seiner Nähe mit den Fingern schnipse, bleckt er die Zähne.«

      »Dann lass es einfach. Hallo im Übrigen. Wie war dein Tag?«

      Kieron seufzte. »Zu viel Verwaltungskram, eine zu lange Besprechung mit dem Commissioner und eine Durchgeknallte. Nein, das nehme ich zurück – eine Besessene. Eigentlich tut sie mir sehr leid – ihre Tochter verschwand vor ein paar Jahren, vermutlich entführt, sie ist sich sicher, dass sie weiß, wer es war, und das sind wir auch, er sitzt ohnehin schon für zwei Morde im Gefängnis – er hat gestanden, behauptet aber steif und fest, dass er nichts mit diesem Fall zu tun hat. Sie will Gerechtigkeit, verständlich – sie will einen Abschluss. Sackgasse.«

      »Marion Still.«

      »Du weißt davon?«

      »Sie ist eine Patientin. Kimberley war es auch. Welchen Eindruck hattest du von ihr?«

      »Stabil. Zeigt nach außen keine Emotionen.«

      »Was hast du gesagt – dass du nichts tun kannst?«

      »Mehr oder weniger. Aber ich habe auf dem Heimweg darüber nachgedacht …«

      »Russon ist dafür verantwortlich, oder?«

      »Das ist wahrscheinlich, doch ich kenne nicht alle Details, das war vor meiner Zeit hier. Ich lasse mir die Akten zukommen und werfe einen Blick hinein.«

      »Heute Morgen bekam ich eine E-Mail von einem früheren Studienkollegen. Luke Renfrew. Ich war ziemlich scharf auf ihn.«

      »Das will ich gar nicht wissen. Sag mir nur nicht, dass er nach Lafferton zieht.«

      »Eigentlich nach Starly, und keine Sorge, er ist schwul.«

      »Leoparden ändern ihre Flecken.«

      »Luke nicht. Sein Partner ist ein sehr reicher Italiener, der gerade das Hotel gekauft hat. Er möchte mit mir über ein Projekt sprechen … mich von ihm zum Lunch dort einladen zu lassen ist das Mindeste, was ich tun kann. Auf die alten Zeiten und so.«

      Sie schrie in gekünstelter Angst auf, als Kieron sich auf sie stürzte. Für Wookie war nicht ersichtlich, dass der Überfall nur Spaß war.

      »Verdammte Scheiße!«

      Der Hund hatte ihn fest in den Arm gezwickt, war vom Sofa gesprungen und hatte das Weite gesucht.

      »Daran könnte ich sterben«, sagte Kieron.

      »Nein, könntest du nicht, vorausgesetzt, dass du gegen Tetanus geimpft bist. Wenn es anfängt zu pochen oder anschwillt, gebe ich dir Penicillin, aber vorerst kleben wir ein Pflaster drauf.« Cat tupfte den Biss mit Desinfektionsmittel ab.

      »Es gibt ein Kampfhundegesetz, nur zu deiner Information.«

      »Wookie ist kein Kampfhund.«

      Kieron streckte den Unterarm vor.

      »Er ist nur nicht daran gewöhnt, dass du hier lebst. Ich mache jetzt das Abendessen.«

      Kieron folgte ihr.

      »Und hör um Himmels willen auf, deinen Arm so zu umklammern.«

      »Es pocht.«

      »Nein, es tut bloß weh.«

      Er setzte sich und schaute traurig auf das Pflaster. »Und was hat jetzt dieser Luke gesagt, auf den du so scharf bist?«

      »Nichts Genaues … nur dass er zu etwas meine Meinung hören will.«

      »In eure Gemeinschaftspraxis eintreten?«

      »Das glaube ich nicht, jedenfalls wäre das nicht meine Angelegenheit, ich bin keine Teilhaberin. Hier, putz die Bohnen für mich.«

      »Ich glaube, ich kann meinen rechten Arm nicht bewegen.«

      »Doch, kannst du.« Sie baute Schüssel, Bohnen und Messer vor ihm auf. »Wie war das noch, du sagtest, du hättest dir ein paar Gedanken über den Mord an Kimberley


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