Phantomschmerzen. Susan Hill

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Phantomschmerzen - Susan Hill


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      Susan Hill

      Phantomschmerzen

      Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol

      Kampa

      Für Ihre Königliche Hoheit, die Herzogin von Cornwall,

      »Simon Serraillers größter Fan«

      Prolog

      Lange war da nur Schwarz gewesen, konturloses, grenzenloses Schwarz. Doch dann war am Rand der Schwärze ein sanftes, diffuses Grau eingesickert, und kurz darauf waren die Bilder gekommen, die sich sehr schnell vorwärtsbewegt hatten, wie ein Daumenkino. Zunächst konnte er keins festhalten oder sie voneinander unterscheiden, aber allmählich waren sie langsamer geworden, und er hatte Gesichter gesehen, Körperteile – eine Hand, einen Daumen, einen Nacken. Haare. Die Bilder hatten angefangen zu pulsieren, sich aufzublähen und zu schrumpfen, wie ein klopfendes Herz, die Gesichter waren umeinandergewirbelt, ineinander aufgegangen, dann hatten sie sich wieder getrennt, und ein oder zwei Mal hatten sie ihm einen anzüglichen Blick zugeworfen oder schweigend aus Mündern voll kaputter Zähne gelacht. Er hatte versucht, sich von ihnen zu entfernen oder den Arm zu heben, um die Augen abzuschirmen, doch er war steif, sein Arm schwer und kalt, wie ein aus dem Gefrierschrank geholter Braten. Er wusste nicht, wie er ihn bewegen sollte.

      Die Gesichter waren in Stücke zerborsten, die sich unkontrollierbar zu drehen begannen, und er hatte in einen Strudel hinabgeschaut.

      Ein greller Blitz. In seinem Licht Millionen glitzernder, scharfer Nadelspitzen. Noch ein Aufleuchten. Die Nadelspitzen hatten sich aufgelöst.

      Simon Serrailler öffnete die Augen.

      Erstaunlich, wie schnell die Dinge Gestalt angenommen hatten.

      »Welcher Tag ist heute?«

      »Donnerstag. Es ist zwanzig nach fünf.« Die Schwester, die den Tropf eingestellt hatte, wandte sich ihm zu.

      »Wann bin ich zu mir gekommen?«

      »Gestern Morgen.«

      »Mittwoch.«

      »Sie machen sich sehr gut. Wie geht es Ihnen?«

      »Weiß nicht genau.«

      »Schmerzen?«

      Simon überlegte. Er bewegte den Kopf und sah ein rechteckiges Stück farblosen Himmel. Das Dach eines Gebäudes, mit einem Sims ringsum. Anscheinend tat überhaupt nichts weh, obwohl sich sein linker Arm und der Hals seltsam schwer anfühlten. Der Rest seines Körpers war irgendwie losgelöst. Schmerz war das nicht. Er wusste, was Schmerz war.

      »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

      »Prima. Sie machen sich sehr gut«, wiederholte sie, als müsste sie ihn überzeugen.

      »Wirklich? Ich weiß nicht.«

      »Wissen Sie, wo Sie sind?«

      »Nicht so richtig. Im Krankenhaus vielleicht?«

      »Volltreffer. Sie sind auf der Intensivstation des Charing Cross, und ich bin Schwester Bonnington. Megan.«

      »Das nächste Krankenhaus ist nicht Charing Cross … es ist … ich weiß es nicht mehr.«

      »Sie sind in West-London.«

      Er ließ die Wörter auf sich einwirken und wusste ganz genau, was sie bedeuteten. Er wusste, wo West-London war, er hatte nach der Ausbildung als Detective Constable in West-London gearbeitet.

      »Erinnern Sie sich noch, was passiert ist?«

      Blitzartig tauchten Bilder auf. Die Körperteile. Die Hand. Der Daumen. Der Mund voll verfaulter, kaputter Zähne. Sie verschwanden.

      »Ich glaube nicht.«

      »Kein Problem. Das ist völlig normal. Zermartern Sie sich nicht das Hirn, um sich zu erinnern.«

      »Bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt ein Hirn habe.«

      Sie lächelte. »Ich denke schon. Jetzt schüttle ich erst mal Ihre Kissen auf, damit Sie es ein bisschen bequemer haben. Können Sie sich aufsetzen?«

      Er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, doch sie schien ihn anzuheben und nach vorn gegen ihren Arm zu lehnen, seine Kissen aufzuschütteln, seine Bettdecke zu richten und ihn wieder zurückzulegen, ohne größere Anstrengung. Simon sah, dass er überall Schläuche und Kabel an sich hatte, die zu Geräten und Monitoren und Infusionsbeuteln führten, und dass sein linker Arm in einer Art Schlinge steckte. Er betrachtete ihn. Verbände, ein langer Ärmel aus Bandagen bis an seine Schulter und noch weiter hinauf.

      »Tut das weh?«

      »Nein. Irgendwie, als wäre da – nichts.«

      »Taub?«

      »Nicht so richtig. Einfach nur … ich kann es nicht beschreiben.«

      »Machen Sie sich keine Sorgen. Der Oberarzt kommt heute Abend noch bei Ihnen vorbei.«

      »Wie heißt er?«

      »Mr Flint. Und Dr. Lo ist der Facharzt. Er hat in den letzten beiden Tagen nach Ihnen geschaut, aber wir sind ein Team.«

      »Ich habe ein Team?«

      »Das haben Sie in der Tat, Simon. Ist es okay, wenn ich Sie Simon nenne? Wir fragen immer, wissen Sie, aber Sie konnten ja nicht antworten. Was ist Ihnen lieber? Mr Serrailler? Superintendent? Chief Superintendent?«

      »Um Himmels willen. Simon reicht.«

      Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.

      »Da kommt Besuch, also gehe ich mal. Der Notknopf ist hier, neben Ihrer rechten Hand. Drücken Sie, wenn Sie etwas brauchen.«

      »Hallo, Si.« Cat beugte sich über ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist wieder wach.«

      »Wann war ich das nicht?«

      »Fast immer in den letzten drei Wochen.«

      »Drei Wochen? Bis wann?«

      »Bis gestern. Weißt du, dass ich hier war?«

      Simon versuchte, die Bilder in seinem Kopf zu sortieren. »Ich … nein.«

      Er sah den flüchtigen Ausdruck der Besorgnis im Gesicht seiner Schwester, den sie rasch kaschierte.

      »Es heißt, der Oberarzt kommt bald zu mir. Wusstest du, dass ich ein eigenes ›Team‹ habe? Gehörst du dazu?«

      Sie lächelte.

      »Hast du mir Trauben mitgebracht?«

      »Nein. Aber du willst doch eigentlich keine Trauben, oder?«

      »Ich will wissen, was passiert ist und warum ich hier bin. Sprich mit mir.«

      »Hör zu, Si, du musst alles erfahren, aber ich bin nicht die Richtige, dir die ganze Geschichte zu erzählen, weil ich nicht dabei war. Kieron kommt morgen wieder her, und wenn sie meinen, dass du in der Lage bist, es dir anzuhören, dann erzählt er es dir.«

      »Der Chief war hier?«

      »Natürlich. Er hat mich an dem Tag, als es passierte, hierhergebracht. Er war seitdem ein paarmal hier, wann immer er es einrichten konnte, und ich habe ihn jeden Tag auf dem Laufenden gehalten.«

      »Du? Warum du?«

      »Weil ich an den meisten Tagen hier war und mit den Ärzten gesprochen habe, damit ich ihr Fachchinesisch für ihn übersetzen konnte.«

      »Nein, ich meinte … ich verstehe nicht, wieso du ihn überhaupt kennst.«

      »Er war mein Fels in der Brandung, Si … als sonst niemand da war, der mir hätte helfen können.«

      »Aha.«

      »Nichts aha.«

      Er versuchte, ihre Miene zu deuten, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren, weil er im linken Arm von einer Sekunde zur nächsten immer stärkere Schmerzen verspürte, in Wogen, die sich über seinen Arm hinweg auf der Brust brachen, durch seinen Körper


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