Phantomschmerzen. Susan Hill

Читать онлайн книгу.

Phantomschmerzen - Susan Hill


Скачать книгу
noch immer nicht im Einklang. Ich weiß, es ist kompliziert, aber bitte noch einmal.«

      Es war kompliziert. Sie probten das Stück von John Tavener jetzt seit einem Monat und bekamen es kaum in den Griff. Der Alt hatte Schwierigkeiten. Cat quälte sich. Das Mozart-Requiem, das die St.-Michael-Singers im selben Konzert aufführten, war im Vergleich dazu ein Kinderspiel.

      »Das ist nicht schwerer als der Britten, den wir Weihnachten hatten – los jetzt, konzentriert euch.«

      »Ist viel schwerer«, murmelte Cats Nachbarin, die im Alt sang. »Also echt, wir sind doch nicht der Chor der Londoner Philharmoniker.«

      »Nein, Nancy – wir streben an, sogar noch besser zu sein. So, zurück zu Seite vier bitte.«

      Andrew Browning, der Chorleiter, war ein strenger Zuchtmeister, der es viel genauer nahm als sein Vorgänger. Er hieß im Chor bereits Browning der Grausame.

      »Eins, zwei, drei und …«

      Cats Handy vibrierte in ihrer Tasche. Sie ignorierte es. Es vibrierte alle paar Minuten, und sie ignorierte es weiter. Wenn Sam wieder mal seinen Haustürschlüssel vergessen hatte, konnte er im Gartenschuppen warten.

      Sie meisterten eine schwierige Partie, und plötzlich klappte es. Vielleicht war Tavener am Ende doch zu schaffen.

      Sie machten Pause, um etwas zu trinken, und Cat sah auf ihr Handy. Sams Name tauchte auf dem Display auf. Nein, dachte sie, ein Mal zu viel, Sambo, das wird dich jetzt lehren, an deinen Schlüssel zu denken. Sie stellte sich vor, wie er im Schuppen hockte und darauf wartete, dass sie nach Hause kam.

      »Cat, da möchte dich jemand sprechen.«

      Sie blickte auf. Sam war nicht im Gartenschuppen, er kam durch den Vorraum auf sie zu, und seine Miene sagte ihr, dass es diesmal nicht um einen verlorenen Schlüssel ging.

      »Wie bist du hergekommen?«

      »Kieron. Er war der Einzige, der mir einfiel, weil du nicht ans Handy gegangen bist. Du musst mitkommen, der Wagen wartet.«

      »Welcher Wagen? Wozu?«

      »Simon. Das Krankenhaus hat angerufen. Mum – beeil dich.«

      Kieron war in vielerlei Hinsicht nicht so wie ihr Mann Chris, aber in zwei Punkten – und beide spielten für sie eine große Rolle – stimmten sie überein. Chris war ruhig und unerschütterlich gewesen. Das war Kieron auch – wahrscheinlich sogar noch mehr. Die zweite Ähnlichkeit wurde ihr auf dem Heimweg zu später Stunde in dieser Nacht bewusst. Kieron fragte sie nicht, wie es ihr ging, versuchte nicht, das Geschehene schönzureden, sagte nicht ein einziges Mal über Simon »Na ja, wenigstens ist er …«. Er saß neben ihr auf dem Rücksitz des Wagens, hielt ihre Hand und sagte erst etwas, als sie zu reden begann. Sie fuhren rasch und zügig, mussten aber nicht rasen, um zu Simon zu gelangen. Es war passiert. Sie waren rechtzeitig eingetroffen und hatten noch gesehen, wie er vom Operationssaal zu seinem Zimmer gefahren wurde. Der Chirurg, der noch in seiner OP-Kleidung hinter ihm herauskam, winkte ihnen zu, ihm in eine leere Nische zu folgen. Er und Kieron standen, Cat setzte sich auf den einzigen Stuhl.

      »Tut mir leid, ich konnte nicht auf Sie warten. Zeit ist entscheidend – die Infektion in seinem Arm hat sich rasch ausgebreitet, und wenn ich sie nicht in den Griff bekommen hätte, wäre er womöglich an einer Sepsis gestorben. Sah schlimm aus.«

      »Also mussten Sie amputieren.«

      »Mir blieb nichts anderes übrig. Es ist zum Verrücktwerden, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Arm gerettet hatte. Hat lange gedauert, aber es funktionierte. Alles lief nach meiner Vorstellung, und es sah besser aus, als ich zu hoffen gewagt hatte.«

      »Und dann das.«

      »Sepsis ist immer ein Risiko, auch wenn wir noch so vorsichtig sind.«

      »Ich sage den Leuten oft, dass sie, was Infektionen angeht, außerhalb von Krankenhäusern sicherer sind als drinnen.«

      Der Chirurg zuckte mit den Schultern. Er wirkte sehr erschöpft, das Gesicht grau, dunkle Ringe unter den Augen. Mitternacht war längst vorbei.

      »Sie können reingehen und kurz bei ihm bleiben, aber er wird wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass Sie da sind.«

      »Aber er kommt doch wieder auf die Beine?« Kieron hatte zum ersten Mal etwas gesagt.

      »Ja. Der Infektionsherd ist weg, und der Patient wird mit den stärksten Antibiotika vollgepumpt, die wir haben und nur sehr sparsam anwenden. Seine Temperatur ist gesunken. Ja, er wird wieder gesund. Ich weiß noch nicht, wann ich ihn entlassen kann, aber ich sehe keinen Grund, warum er nicht in zwei Wochen nach Hause könnte. Dann fängt alles an.«

      »Physiotherapie?«

      »Ja, aber vor allem die Anpassung einer Prothese. Damit soll begonnen werden, sobald keine Gefahr mehr besteht. Ich werde ihn an die besten Spezialisten überweisen.« Er richtete sich auf. »Morgen bin ich fix und fertig.«

      Nachdem er gegangen war, standen sie noch ein paar Minuten schweigend zusammen. Im OP-Bereich war es ruhig. Zu dieser Nachtzeit fanden nur Notoperationen statt, und davon gab es gerade keine. Nur selten war es in Krankenhäusern derart still.

      Kieron streckte die Hand aus. »Hör zu, du willst ihn sicher sehen, aber nicht heute Nacht, wenn er noch ohne Bewusstsein ist. Ich habe im Büro angerufen und Bescheid gegeben, dass ich mir morgen freinehme, sie sich aber in dringenden Fällen melden können. Daher schlage ich vor, ich suche uns ein Hotel, da gehen wir hin, bekommen etwas zu trinken und hoffentlich wenigstens ein Sandwich und kommen morgen gleich wieder her. Und« – er legte eine Hand auf ihre – »keine Bedingungen. Zwei Zimmer.«

      »Ich habe nicht …«

      »Ich weiß. Ich auch nicht. Komm, heute Nacht kannst du nichts mehr tun, und du brauchst Schlaf.«

      Das zu einer Kette gehörende Hotel lag eine Meile entfernt. Es war sauber, gemütlich, hatte Zimmer frei und eine Bar, die noch offen war. Cat hatte das Gefühl, zu schwimmen, statt auf festem Boden zu gehen, als sie Kieron an einen Tisch folgte. Ihre Gefühle für Simon hatte sie in eine Ecke ihres Bewusstseins geschoben, die Ärzte genau für diesen Zweck vorsehen. Wenn man mit schockierenden und verstörenden Tatsachen nicht zurechtkam, lernte man schnell, sie irgendwo abzustellen. Nicht jedoch zu begraben. Auf diese Weise begannen abgelagerte Probleme zu gären.

      Kieron hatte zwei doppelte Whisky und einen Krug Wasser geholt. Mitternachtssnacks waren noch bis zwei Uhr zu haben. Er hatte Omeletts bestellt.

      »Alles in Ordnung?«

      Cat schüttelte den Kopf. »Bei mir schon. Ich kann damit umgehen. Aber du musst mir eine Frage beantworten, Kieron. Die wichtigste nach ›Wird er überleben?‹.«

      »Ich kann mir denken, um welche Frage es geht.«

      »Na schön.«

      »Vorausgesetzt, Simon ist so weit gesund, hat aber eine Armprothese, kann er dann noch bei der Polizei bleiben?«

      Prüfend betrachtete sie sein Gesicht, konnte darin aber nichts erkennen.

      »Natürlich kann er das. Absolut. Das steht außer Frage, und besonders bei der Kriminalpolizei. Es wäre auch bei der Schutzpolizei möglich, aber da gäbe es größere Umstellungen und ein paar Einschränkungen. Bei der Kriminalpolizei überhaupt nicht.«

      »Und das stimmt?«

      »Die Entscheidung liegt bei mir, sobald die Ärzte ihr Urteil gefällt haben und Simon mir sagt, dass er bleiben will. Das ist vielleicht nicht der Fall.«

      »Oh, das wird er. Was sollte er sonst machen?«

      »Zeichnet er mit der linken Hand?«

      »Nein, er ist Rechtshänder. So gut er auch ist – und er ist gut –, er könnte nicht ausschließlich das machen. Er ist Polizist. Das hat ihn in über zwanzig Jahren zu dem gemacht, der er ist.«

      »Er wird auch Polizist bleiben.«

      Ihr


Скачать книгу