Phantomschmerzen. Susan Hill
Читать онлайн книгу.blickte aufs Meer hinaus und sah, dass die Fähre gerade in den Hafen einbog. Ein paar Leute sammelten sich dort unten, noch mehr würden erscheinen. Pub und Laden würden jetzt allmählich Vorräte für den bevorstehenden Winter anlegen und alle Lagerräume füllen, die ihnen zur Verfügung standen. Sie leerten sich teilweise in der Sommersaison, wenn die Fähren häufiger kamen. Simon sprang auf.
Die Insulaner wussten alle über seinen Unfall und den Verlust des linken Arms Bescheid, und es hatte viel freundlichen Zuspruch oder Einladungen auf einen Drink gegeben, aber ansonsten war kein großes Aufheben gemacht worden, wofür er dankbar war. Jetzt wartete er, während die Fähre vorsichtig andockte und das Tau von Bord geworfen wurde. Nur wenige Minuten vergingen, bis die ersten Kartons und Kisten entladen wurden. Simon und zwei andere luden kleinere Kartons mit Lebensmitteln auf Sackkarren, die sie dann zum Lager hinter dem Laden schoben.
»Kerzen.« Das war die Stimme der Frau, die auf der anderen Seite der Insel am Strand entlanggegangen war. Sie war groß, und ihr blondes Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. »Sind Sie gestern angekommen?«, fragte sie.
»Vorgestern Abend.« Er hatte Schwierigkeiten, die Sackkarre zu greifen und den Abhang hinaufzumanövrieren, und wollte daher seinen Atem nicht an ein Gespräch verschwenden, was die Frau aber anscheinend sofort begriff. Sie bot ihm keine Hilfe an, ging ihm nur aus dem Weg und wuchtete ihre eigene Karre die Anhöhe hinauf.
Das Entladen, Holen, Schleppen und Einlagern dauerte eine Stunde. Die Fähre war voll beladen, und außer den zwei Mann Besatzung war niemand an Bord.
Kerzen. Batterien. Dicke Socken. Strapazierfähige Gummistiefel. Butangaszylinder. Haushaltsreiniger. Fässer mit Speiseöl. Salz. Regenkleidung. Und so weiter.
Simon blieb stehen, um zu verschnaufen. Er hatte seit seinem Unfall viel trainiert, aber seine Kraft war noch nicht wieder auf normalem Stand, und seine Schulter schmerzte höllisch.
»Fast geschafft.«
Die Frau hievte Kisten von der Sackkarre in den hinteren Bereich des Lagers und tat so, als sei es ein Klacks. Er war wütend auf sich. Vor einer Frau schlappmachen! Das wäre ihm früher nie in den Sinn gekommen. Jetzt war er gereizt. Sein Stolz war verletzt.
»Das war’s«, rief jemand. »Der Letzte zahlt.«
Gut gelaunt eilten alle zum Taransay Inn.
»Hast du Sandy schon kennengelernt?« Douglas tauchte aus dem Gedränge auf. »Sie ist kurz nach deinem letzten Besuch hier eingetroffen und gehört inzwischen zum Inventar.«
Die Frau hob ihr Bierglas. Sie war vielleicht Ende vierzig, möglicherweise etwas jünger – Wind und Wetter verliehen allen, die einen oder zwei Winter blieben, eine spröde, rötliche Gesichtshaut, die sie älter erscheinen ließ.
»Simon Serrailler.«
»Sandy Murdoch.«
Simon hatte sich ein großes Glas Malt bestellt, um den Schmerz in seiner Schulter zu betäuben. Er hatte starke Medikamente verschrieben bekommen, bevorzugte aber Whisky.
»Wie lange bleiben Sie hier?«
»Eine, zwei, drei Wochen. Ich habe keinen festen Plan.«
»Den hatte ich auch nicht. Ich kam für eine Woche, aus einer Woche wurde ein Monat, und das war so ungefähr vor vier Jahren.«
Ihr Akzent klang nicht schottisch, doch sie hatte den Tonfall von Taransay ein wenig angenommen, dessen Singsang Simon so noch nirgendwo anders gehört hatte.
»Wie finden Sie die Winter?«
Sandy zuckte mit den Schultern. »Der Wind kann einen wahnsinnig machen. Aber ich mag ihn. Man verkriecht sich.«
Das Lokal war voll, und die Neuankömmlinge hatten feuchte Schultern und Haare. Regen lief an den Fenstern herunter.
»Und Sie?«, fragte Sandy, obwohl sie ihn nicht anschaute. »Sie hatten einen Unfall.«
»Ja.«
»Mit dem Auto?«
»Nein.«
»Aha.«
»Kommen Sie, ich gebe Ihnen noch einen aus.« Simon stand auf. »Einen Bitter Shandy? Einen Kurzen?«
»Nein, nein, ich trinke das harte Zeug nicht. Nur manchmal gegen die Kälte. Aber danke.«
Kirsty war hereingekommen und sprach mit Douglas an der Bar. »Was kann ich euch bestellen? Douglas?«
»Nein, ich bin schon fast weg, um Robbie abzuholen, ich bin spät dran, und die Schule ist heute zur Abendessenszeit aus.«
Sandy winkte, als Kirsty mit wehenden Haaren hinauslief und die Regenjacke zuknöpfte.
»Douglas?«
»Danke. Nur den Single, und dann muss ich mich mit einer Rolle Zaundraht auf den Weg zur anderen Seite machen.«
Als die beiden Whiskys über die Bar geschoben wurden, füllte Douglas sein Glas aus dem Krug auf dem Tresen auf. Serrailler verzog das Gesicht. »Verdammter Frevel«, sagte er. »So ein guter Malt, und du ruinierst ihn mit deiner Limonade. Das krieg ich nie in den Kopf.«
Douglas lachte. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Er hatte mit einem Nicken auf Simons Arm gedeutet.
»Nein, es dauert noch ein paar Wochen. Die sagen mir nicht viel.«
»Fängst du wieder an zu arbeiten, bevor du diesen bionischen Arm bekommst, wie Robbie ihn nennt?«
»Ich weiß nicht, Douglas, ich weiß es einfach nicht … die Stelle ist da, sie werden sie so lange frei halten, wie ich es möchte, aber das kann nicht für immer und ewig sein.«
»Kannst du nicht sukzessive wieder einsteigen?«
»Wahrscheinlich schon. Aber will ich das? Das heißt überhaupt wieder als Polizist arbeiten?«
»Was sonst?«
Simon leerte seinen Whisky und antwortete nicht. Die Frage hatte er sich oft gestellt, ohne eine Antwort darauf zu haben.
Douglas richtete sich auf. »Danke«, sagte er. »Sieht so aus, als hätte Sandy dir da drüben den Platz warmgehalten.«
»Wer ist sie? Jedenfalls keine Einheimische. Woher kommt sie?«
Douglas zog eine Augenbraue hoch. »Bisschen alt für dich.«
»Hör auf, das habe ich nicht gemeint, und das weißt du. Hab mich bloß gewundert. Ein Neuankömmling, der nach Taransay kommt und bleibt …«
»Tja, nun … sie hat sich von Anfang an nützlich gemacht. Apropos, ich könnte Hilfe beim Zaun gebrauchen … wäre in der Hälfte der Zeit damit fertig. Sie packt bei den meisten Sachen mit an. Hilft hier aus, wenn im Sommer viel Betrieb ist. Iain sagt, sie muss in einem anderen Leben selbst eine Kneipe geführt haben. Aber jetzt geht es um den Zaun.« Er schob sich durch die volle Gaststube zu Sandys Platz.
Erst als Simon zum Laden hinüberging, um ein paar Vorräte zu holen, fiel ihm ein, dass Douglas ebenso gut ihn hätte bitten können, beim Zaunbau zu helfen. Aber er hatte es nicht, und das stieß Simon bitter auf.
5
Sie trug ein Kopftuch, und nur sehr wenige Frauen trugen heutzutage Kopftücher, bis auf die Queen – das ging dem diensthabenden Polizisten durch den Kopf, als die Frau aufs Revier kam.
»Guten Morgen. Sie sind Mrs …«
»Still. Marion Still.«
Ja.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs Still?«
»Das wissen Sie ganz genau, Sergeant. Nichts hat sich geändert. Ich will den Detective Chief Superintendent sprechen.«
»Tut mir leid, aber da haben Sie kein Glück, Mrs Still – der Super ist längere Zeit im Urlaub.«
»Das haben Sie mir beim letzten