Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.Gesamtprodukt in persönlicher Konsumtion restlos auf gehe, ohne für die Erneuerung des konstanten Kapitals der Gesellschaft einen Wertteil übrigzulassen, desgleichen, daß die Akkumulation nur in der Verwandlung des kapitalisierten Mehrwerts in zuschüssiges variables Kapital bestehe. Wenn jedoch spätere Kritiker Sismondis, wie z.B. der russische Marxist Iljin 77, mit dem Hinweis auf diesen fundamentalen Schnitzer in der Wertanalyse des Gesamtprodukts die ganze Akkumulationstheorie Sismondis als hinfällig, als "Unsinn" mit einem überlegenen Lächeln abtun zu können glaubten, so bewiesen sie dadurch nur, daß sie ihrerseits das eigentliche Problem gar nicht bemerkten, um das es sich bei Sismondi handelte. Daß durch die Beachtung des Wertteils im Gesamtprodukt, der dem konstanten Kapital entspricht, das Problem der Akkumulation noch bei weitem nicht gelöst ist, bewies am besten später die eigene Analyse von Marx, der als erster jenen groben Schnitzer Ad. Smith' aufgedeckt hatte. Noch drastischer bewies dies aber ein Umstand in den Schicksalen der Sismondischen Theorie selbst. Durch seine Auffassung ist Sismondi in die schärfste Kontroverse mit den Vertretern und Verflachern der klassischen Schule geraten: mit Ricardo, Say und MacCulloch. Die beiden Seiten vertraten hier zwei entgegengesetzte Standpunkte: Sismondi die Unmöglichkeit der Akkumulation, Ricardo, Say und MacCulloch hingegen deren schrankenlose Möglichkeit. Nun standen aber in bezug auf jenen Smithschen Schnitzer beide Seiten genau auf demselben Boden: Wie Sismondi, so sahen auch seine Widersacher von dem konstanten Kapital bei der Reproduktion ab, und niemand hat die Smithsche Konfusion in bezug auf die Auflösung des Gesamtprodukts in v + m in so pretentiöser Weise zu einem unerschütterlichen Dogma gestempelt wie gerade Say.
Dieser erheiternde Umstand sollte eigentlich genügen, um zu beweisen, daß wir das Problem der Akkumulation des Kapitals noch lange nicht zu lösen imstande sind, wenn wir bloß dank Marx wissen, daß das gesellschaftliche Gesamtprodukt außer Lebensmitteln zur Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten (v + m) noch Produktionsmittel (c) zur Erneuerung des Verbrauchten enthalten muß und daß dementsprechend die Akkumulation nicht bloß in der Vergrößerung des variablen, sondern auch in der Vergrößerung des konstanten Kapitals besteht. Wir werden später sehen, zu welchem neuen Irrtum in bezug auf die Akkumulation diese nachdrückliche Betonung des konstanten Kapitalteils im Reproduktionsprozeß geführt hat. Hier jedoch mag die Konstatierung der Tatsache genügen, daß der Smithsche Irrtum in bezug auf die Reproduktion des Gesamtkapitals nicht etwa eine spezielle Schwäche in der Position Sismondis darstellte, sondern vielmehr den gemeinsamen Boden, auf dem die erste Kontroverse um das Problem der Akkumulation ausgefochten wurde. Daraus folgt nur, daß die bürgerliche Ökonomie sich an das verwickelte Problem der Akkumulation heranwagte, ohne mit dem elementaren Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden zu sein, wie denn die wissenschaftliche Forschung nicht bloß auf diesem Gebiete in seltsamen Zickzacklinien schreitet und häufig gleichsam die obersten Stockwerke des Gebäudes in Angriff nimmt, bevor das Fundament noch zu Ende ausgeführt ist. Es zeugt jedenfalls dafür, eine wie harte Nuß Sismondi mit seiner Kritik der Akkumulation der bürgerlichen Ökonomie zum Knacken aufgegeben hat, wenn sie trotz all der durchsichtigen Schwächen und Unbeholfenheiten seiner Deduktion mit ihm doch nicht fertig zu werden vermochte.
Elftes Kapitel.
MacCulloch gegen Sismondi
Die Sismondischen Kassandrarufe gegen die rücksichtslose Ausbreitung der Kapitalsherrschaft in Europa riefen gegen ihn von drei Seiten eine scharfe Opposition auf den Plan: in England die Schule Ricardos, in Frankreich den Verflacher Smith', J. B. Say, und die St-Simonisten. Während die Gedankengänge Owens in England, der den Nachdruck auf die Schattenseiten des Industriesystems und namentlich die Krise legte, sich vielfach mit denen Sismondis begegnen, fühlte sich die Schule des anderen großen Utopisten, St-Simons, die den Nachdruck auf den weltumspannenden Gedanken der großindustriellen Expansion, auf die schrankenlose Entfaltung der Produktivkräfte der menschlichen Arbeit legte, durch den Angstruf Sismondis lebhaft beunruhigt. Uns interessiert hier aber die vom theoretischen Standpunkt fruchtbarere Kontroverse zwischen Sismondi und den Ricardianern. Im Namen letzterer richtete zuerst MacCulloch im Oktober 1819, also gleich nach Erscheinen der "Nouveaux principes", in der "Edinburgh Review" eine anonyme Polemik gegen Sismondi, die, wie man sagte, von Ricardo selbst gebilligt wurde.78 Auf diese Polemik replizierte Sismondi 1820 in Rossis "Annales de jurisprudence" unter dem Titel: "Untersuchung der Frage: Wächst in der Gesellschaft zugleich mit der Fähigkeit zu produzieren, auch die Fähigkeit zu verbrauchen?"79
Sismondi konstatiert selbst in seiner Antwort, daß es die Schatten der Handelskrise sind, in deren Zeichen seine damalige Polemik stand: "Diese Wahrheit, die wir beide suchen (Sismondi wußte übrigens, als er antwortete, nicht, wer der Anonymus der "Edinburgh Review" war - R. L.), ist in den gegenwärtigen Zeitläufen von der höchsten Wichtigkeit. Sie kann als grundlegend für die politische Ökonomie gelten. Ein allgemeiner Niedergang macht sich im Handel geltend, in den Manufakturen und sogar, wenigstens in einigen Ländern, in der Landwirtschaft. Das Leiden ist ein so langwieriges, ein so außerordentliches, das Unglück ist in so zahlreiche Familien eingekehrt, Unruhe und Entmutigung in alle, daß die Grundlagen der wirtschaftlichen Ordnung gefährdet erscheinen ... Man hat zwei Erklärungen, die einander entgegengesetzt sind, für diesen staatlichen Niedergang gegeben, der eine so große Gärung hervorgerufen hat. Ihr habt zuviel gearbeitet, sagen die einen; ihr habt zuwenig gearbeitet, sagen die anderen. Das Gleichgewicht, sagen die ersteren, wird sich erst dann wiederherstellen, Friede und Wohlstand werden erst dann wiederkehren, wenn ihr den ganzen Überschuß der Waren verbraucht habt, der unverkauft den Markt bedrückt, und wenn ihr in Zukunft eure Produktion nach der Nachfrage der Käufer richtet; das Gleichgewicht wird sich nur einstellen, sagen die anderen, wenn ihr eure Anstrengungen, aufzuhäufen und zu reproduzieren, verdoppelt. Ihr täuscht euch, wenn ihr glaubt, daß unsere Märkte überfüllt sind, nur die Hälfte unserer Magazine ist gefüllt, füllen wir auch die andere Hälfte: Diese neuen Reichtümer werden sich, die einen gegen die anderen, eintauschen und neues Leben dem Handel einflößen." Hier hat Sismondi mit ausgezeichneter Klarheit den wirklichen Brennpunkt der Kontroverse herausgehoben und formuliert.
In der Tat steht und fällt die ganze Position MacCullochs mit der Behauptung, der Austausch sei in Wirklichkeit Austausch von Waren gegen Waren. Jede Ware stelle also nicht nur ein Angebot, sondern ihrerseits eine Nachfrage dar. Das Zwiegespräch gestaltete sich darauf in folgender Weise: MacCulloch: "Nachfrage und Angebot sind Ausdrücke, die nur korrelativ und wandelbar sind. Das Angebot einer Art von Gut bestimmt die Nachfrage nach einem anderen. So entsteht eine Nachfrage nach einer gegebenen Menge landwirtschaftlicher Produkte, wenn eine Menge Industrieprodukte, deren Herstellung ebensoviel gekostet hat, dagegen in Tausch angeboten wird, und es entsteht andererseits eine tatsächliche Nachfrage nach dieser Menge Industrieprodukte, wenn eine Menge landwirtschaftlicher Produkte, die dieselben Ausgaben verursacht haben, als Gegenwert angeboten wird."80 Die Finte des Ricardianers liegt auf der Hand: Er beliebt von der Geldzirkulation abzusehen und so zu tun, als ob Waren unmittelbar mit Waren gekauft und bezahlt wären.
Aus den Bedingungen hochentwickelter kapitalistischer Produktion sind wir plötzlich versetzt in die Zeiten des primitiven Tauschhandels, wie er noch heute im Innern Afrikas gedeihen mag. Der entfernt richtige Kern der Mystifikation besteht darin, daß in der einfachen Warenzirkulation das Geld lediglich die Rolle des Vermittlers spielt. Aber gerade die Dazwischenkunft dieses Vermittlers, die in der Zirkulation W - G - W (Ware - Geld - Ware) die beiden Akte, den Verkauf und den Kauf, getrennt und zeitlich und örtlich voneinander unabhängig gemacht hat, bringt es mit sich, daß jeder Verkauf durchaus nicht gleich vom Kauf gefolgt zu werden braucht, und zweitens, daß Kauf und Verkauf durchaus nicht an dieselben Personen gebunden sind, ja nur in seltenen Ausnahmefällen zwischen denselben "Personae dramatis" sich abspielen werden. Diese widersinnige Unterstellung macht aber gerade MacCulloch, indem er einerseits Industrie, andererseits Landwirtschaft als Käufer und Verkäufer zugleich einander entgegenstellt.