Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.so werden sie Manufakturwaren schaffen, die zum Ankauf des Bruttoprodukts der anderen Hälfte genügend sind. Das Gleichgewicht ist wieder hergestellt, und fünfzehnhundert Pächter werden mit fünfzehnhundert Fabrikanten ihre entsprechenden Produkte mit genau derselben Leichtigkeit tauschen, mit der die tausend Pächter und die tausend Fabrikanten ehemals die ihrigen getauscht haben." Auf diese Possenreiterei, die "sehr ruhig" mit der Stange im Nebel herumfährt, antwortet Sismondi mir dem Hinweis auf die wirklichen Verschiebungen und Umwälzungen des Weltmarkts, die sich vor seinen Augen vollzogen:
"Man hat wilde Länder unter Kultur gesetzt, und die politischen Umwälzungen, die Änderung in dem System der Finanzen, der Friede, haben in die Häfen der alten Landwirtschaft treibenden Länder auf einmal Schiffsladungen eingehen lassen, die fast allen ihren Ernten gleichkommen. Die ungeheuren Provinzen, die Rußland neuerdings am Schwarzen Meere zivilisiert hat, Ägypten, das einen Regierungswechsel erlebt hat, die Berberei 82, der der Seeraub untersagt worden ist, haben plötzlich die Speicher Odessas, Alexandriens und Tunis in die Häfen Italiens geleert und haben ein solches Übermaß von Getreide mit sich geführt, daß die ganzen Küsten entlang die Tätigkeit des Pächters eine verlustbringende geworden ist. Das übrige Europa ist nicht vor einer ähnlichen Umwälzung sicher, die die ungeheure Ausdehnung des neuen Landes verursacht hat, das an den Ufern des Mississippi auf einmal unter Kultur gesetzt worden ist und das alle seine Erzeugnisse ausführt. Selbst der Einfluß Neuhollands kann eines Tages für die englische Industrie vernichtend sein, wenn nicht in Hinsicht auf die Lebensmittel, für die der Transport zu kostspielig ist, so doch hinsichtlich der Wolle und der anderen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, deren Beförderung eine leichtere ist." Was war nun der Rat MacCullochs angesichts dieser Agrarkrise in Südeuropa? Die Hälfte der neuen Landwirte sollten Fabrikanten werden. Darauf sagt Sismondi: "Diesen Rat kann man ernsthaft nur den Tataren in der Krim oder den ägyptischen Fellachen geben" - und er fügt hinzu: "Noch ist der Augenblick nicht gekommen, um neue Fabriken in überseeischen Gegenden oder in Neuholland einzurichten." Man sieht, Sismondi erkannte mit klarem Blick, daß die Industrialisierung der überseeischen Gebiete nur eine Frage der Zeit war. Daß aber auch die Ausdehnung des Weltmarktes nicht eine Lösung der Schwierigkeit, sondern bloß ihre Reproduktion in höherer Potenz, noch gewaltigere Krisen bringen muß, auch dessen war sich Sismondi wohl bewußt. Er stellte im voraus als die Kehrseite der Expansionstendenz des Kapitalismus fest: eine noch größere Verschärfung der Konkurrenz, eine noch größere Anarchie der Produktion. Ja, er legt sogar den Finger auf die Grundursache der Krisen, indem er die Tendenz der kapitalistischen Produktion, über jede Marktschranke hinauszueilen, an einer Stelle scharf formuliert: "Man hat häufig angekündigt", sagt er zum Schluß seiner Replik gegen MacCulloch, "daß das Gleichgewicht sich wieder herstellen und die Arbeit wieder beginnen würde, aber eine einzige Nachfrage entwickelte jedesmal eine Bewegung, die über die wirklichen Bedürfnisse des Handels weit hinausging, und dieser neuen Tätigkeit folgte bald eine noch peinvollere Einschnürung."
Solchen tiefen Griffen der Sismondischen Analyse in die wirklichen Widersprüche der Kapitalbewegung hat der Vulgarus auf dem Londoner Katheder mit seinem Harmoniegeschwätz und seinem Kontertanz zwischen den tausend bebänderten Pächtern und den tausend weinseligen Fabrikanten nichts zu erwidern gehabt.
Zwölftes Kapitel.
Ricardo gegen Sismondi
Für Ricardo war offenbar mit MacCullochs Erwiderung auf Sismondis theoretische Einwände die Sache nicht erledigt. Im Unterschied von dem geschäftstreibenden "schottischen Erzhumbug", wie ihn Marx nennt, suchte Ricardo nach Wahrheit und bewahrte sich die echte Bescheidenheit eines großen Denkers.83 Daß Sismondis Polemik gegen ihn selbst wie gegen seinen "Schüler" auf Ricardo einen tiefen Eindruck gemacht hatte, beweist die Frontänderung Ricardos in der Frage über die Wirkung der Maschinen. Hier gerade gebührt Sismondi das Verdienst, zum erstenmal der klassischen Harmonielehre die andere Seite der Medaille vor die Augen geführt zu haben. Im Buch IV seiner "Nouveaux principes", im Kapitel VII: "Von der Teilung der Arbeit und von den Maschinen", wie im Buche VII, Kapitel VII, das den bezeichnenden Titel führt: "Maschinen schaffen eine überflüssige Bevölkerung", hatte Sismondi die von den Apologeten Ricardos breitgetretene Lehre angegriffen, als schufen die Maschinen immer ebensoviel oder noch mehr Arbeitsgelegenheit für die Lohnarbeiter, wie sie ihnen durch Verdrängung der lebendigen Arbeit wegnahmen. Gegen diese sogenannte Kompensationstheorie wandte sich Sismondi mit aller Schärfe. Seine "Nouveaux principes" waren 1819 erschienen - zwei Jahre nach dem Hauptwerk Ricardos. In der dritten Ausgabe seiner "Principles" im Jahre 1821, also bereits nach der Polemik zwischen MacCulloch und Sismondi, schaltete Ricardo ein neues Kapitel (Einunddreißigstes Hauptstück der Baumstarkschen Übersetzung, zweite Auflage, 1877) ein, wo er freimütig seinen Irrtum bekennt und ganz im Sinne Sismondis erklärt, "daß die Meinung der Arbeiterklasse, die Anwendung von Maschinen sei ihren Interessen häufig verderblich, nicht auf Vorurteil und Irrtum beruht, sondern mit den richtigen Grundgesetzen der Volks- und Staatswirtschaft übereinstimmt". Dabei sieht er sich genau wie Sismondi veranlaßt, sich gegen den Verdacht zu verwahren, als eifere er gegen den technischen Fortschritt, salviert sich aber - weniger rücksichtslos als Sismondi - durch die Ausflucht, daß das Übel nur allmählich auftrete: "Um das Grundgesetz zu beleuchten, habe ich angenommen, daß das verbesserte Maschinenwesen urplötzlich auf einmal entdeckt und in ganzer Ausdehnung angewendet worden sei. Aber in der Wirklichkeit treten diese Entdeckungen nach und nach auf und wirken mehr auf Anwendung des schon ersparten und angesammelten Kapitals als auf Zurückziehung von Kapital aus bisheriger Anlage."
Doch auch das Problem der Krisen und der Akkumulation ließ Ricardo keine Ruhe. Im letzten Jahre seines Lebens, 1823, blieb er einige Tage in Genf, um mit Sismondi persönlich über diesen Gegenstand zu debattieren, und als Frucht jener Gespräche erschien im Mai 1824 in der "Revue encyclopédique" der Aufsatz Sismondis " Sur la balance des consommations avec les productions".84
Ricardo hatte in seinen "Principles" in der entscheidenden Frage gänzlich die Harmonielehre über das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion von dem faden Say übernommen. Im Kapitel XXI sagt er: "Say hat genügend nachgewiesen, daß es kein noch so großes Kapital gibt, das nicht in einem Lande angewandt werden könnte, denn die Nachfrage findet nur in der Produktion ihre Grenzen. Niemand produziert außer in der Absicht, sein Produkt selbst zu konsumieren oder es zu verkaufen, und jeder verkauft nur in der Absicht, andere Güter zu kaufen, welche für ihn unmittelbar zur Konsumtion dienen oder aber dazu, in einer künftigen Produktion angewendet zu werden. Derjenige, der produziert, wird also notwendig entweder selbst Konsument seines Produktes oder Käufer und Konsument der Produkte anderer."
Gegen diese Auffassung Ricardos polemisierte Sismondi heftig schon in seinen "Nouveaux principes", und die mündliche Debatte drehte sich ganz um die obige Frage. Die Tatsache der Krise, die eben erst in England und in anderen Ländern vorübergezogen war, konnte Ricardo nicht bestreiten. Es handelte sich bloß um ihre Erklärung. Bemerkenswert ist dabei die klare und präzise Stellung des Problems, auf die sich Sismondi mit Ricardo eingangs ihrer Debatte geeinigt harte: Sie eliminierten beide die Frage des auswärtigen Handels. Sismondi begriff wohl die Bedeutung und die Notwendigkeit des auswärtigen Handels für die kapitalistische Produktion und ihr Ausdehnungsbedürfnis. Darin stand er der Ricardoschen Freihandelsschule in nichts nach. Ja, er überragte sie bedeutend durch die dialektische Auffassung dieser Expansionstendenz des Kapitals, er sprach offen heraus, daß die Industrie "genötigt wird, auf fremden Märkten ihre Absatzwege zu suchen, wo noch größere Umwälzungen sie bedrohen"85, er prophezeite, wie wir gesehen, das Erstehen einer gefährlichen Konkurrenz für die europäische Industrie in den überseeischen Ländern, was um das Jahr 1820 immerhin eine ganz achtbare Leistung war, die den tiefen Blick Sismondis für die weltwirtschaftlichen Beziehungen des Kapitals verriet. Bei alledem war Sismondi weit davon entfernt, das Problem der Realisierung des