KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
Читать онлайн книгу.blickte sich hektisch in ihrem Apartment um: hellgraue Wände, italienische Designermöbel, die Bildwand zeigte heute eine Fantasielandschaft von Img Kowloon an, bei der Rottöne dominierten. Ein Putzbot glitt im Schleichtempo die Fensterscheibe entlang. Alles schien wie immer, dabei hatte sich alles verändert.
»Hat jemand in meiner Abwesenheit versucht, in die Wohnung einzudringen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Nein«, antwortete Ken. »Soll ich den Hausservice damit beauftragen, den Flur zu säubern?«
»Was? Ja, bitte tu das. Und sie sollen eine Bestätigung an dich senden, sobald sie fertig sind.«
Sie schaute auf das gerahmte Foto an der Wand. »Mutter«, flüsterte sie. »Was soll ich jetzt tun?« Mit großen Augen schaute sie in das so vertraute Gesicht, doch es gab keine Antwort.
Sie blieb auf dem Teppich sitzen, bis Ken sie informierte, dass der Flur von Insekten gereinigt sei. Dann richtete sie sich auf und begann zu packen. Lange brauchte sie nicht. Eine Reisetasche musste reichen.
3
Auf dem Potala-Platz vor dem verwaisten Winterpalast des letzten Dalai Lama standen siebzehn überdimensionale Gebetsmühlen, jede zweieinhalb Meter hoch. An der Ober- und Unterseite waren sie mit breiten Goldstreifen verziert, auf dem erdfarbenen Röhrenkorpus waren Mantras in ebenfalls goldener Farbe aufgemalt. Sechzehn der siebzehn Gebetsmühlen standen still, die siebzehnte drehte sich auf ihrem Podest stetig im Kreis. Vor elf Tagen hatten Glaubensbrüder die Mühle über dem ehrwürdigen Mönch Chogyal abgesenkt, und seitdem schob er unablässig die im Innern angebrachte Holzstange vor sich her und versetzte das Tongehäuse in Drehung. In der ganzen Zeit hatte er kein Wasser und keine Nahrung zu sich gekommen. Keiner der anderen sechzehn Mönche, die ihr Leben für den Protest gegen die chinesischen Unterdrücker geopfert hatten, hatte länger als drei Tage durchgehalten. Die siebzehnte Gebetsmühle aber drehte sich noch immer wie am ersten Tag, und wer sie ansah, dem trat unweigerlich die Gestalt des kleinen, hageren Chogyal vor Augen, der im finsteren Innern unermüdlich seine Kreise zog und das unsichtbare Licht der Mantras zu allen fühlenden Wesen aussandte.
Von Tag zu Tag strömten mehr Besucher herbei. Sie kamen aus Lhasa und aus anderen Orten Tibets, doch einige waren sogar aus dem chinesischen Kernland angereist. Sie alle standen reglos am Rand des Platzes, vereint in ehrfürchtigem Staunen, und starrten die sich drehende Gebetsmühle an. Einige hielten Ausdrucke mit dem Konterfei Chogyals in die Höhe, niemand sprach. Sie warteten auf den Moment, da die Drehung des Tongehäuses zum Stillstand kommen und der Kleine Mönch, wie er liebevoll genannt wurde, das Samsara, das Gefängnis des Leidens, hinter sich lassen und ins Nirvana eingehen würde.
Die staatlichen Vertreter, die Polizisten und Geheimdienstler in Zivil, schauten ebenso gebannt wie die Neugierigen, die Frommen und die Protestler. Erkennbar entweder an ihren grauen Uniformen oder ihrer gepflegten teuren Nachlässigkeit, waren sie in eine Art Lähmung verfallen. Die Vertreter der Staatsmacht, die es gewohnt waren zu prügeln, zu verhaften, zu verschleppen und die ohne Gerichtsprozess Verurteilten umzuerziehen, mit Bewusstseinsdrogen zu quälen und mit neuroaktiven Implantaten zu unterwerfen, wirkten unschlüssig, aller angemaßten Macht beraubt. Hatten sie Anweisung, sich zurückzuhalten, oder konnten auch sie sich der Ehrfurcht gebietenden Monotonie des Vorgangs auf dem Platz nicht entziehen? Fürchteten sie die Bilder, die von Drohnen, denen einfach nicht Herr zu werden war, über dunkle Kanäle ins ganze Reich übertragen wurden und sogar ihren Weg durch die Große Mauer ins Ausland fanden? Oder waren auch sie ergriffen von dem Wunder des seit elf Tagen andauernden Kreisgangs des unsichtbaren Mönchs in der Gebetsmühle? Es war, als habe er sich längst entmaterialisiert, und an seine Stelle sei eine unpersönliche Kraft getreten, die größer und wahrer war als alle Anweisungen, die in den Einsatzplänen standen, klarer und zwingender als die Worte, die über die InEars in ihre Köpfe drangen.
Ein kleiner Junge zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch und rannte auf den Platz. Offenbar wollte er Chogyals Gebetsmühle berühren. Der stillschweigende Waffenstillstand zwischen Zuschauern und Ordnungskräften war damit hinfällig geworden, der Bann gebrochen. Vier, fünf, sechs Männer stürmten auf die Freifläche und fingen den Jungen ab. Einer lähmte ihn mit einem Taser, einer trat ihm in die Seite, einer legte ihm Handfesseln an, zwei schwenkten Distanzwaffen, um die Zuschauer am Eingreifen zu hindern. Eine Kampfdrohne löste sich vom Befreiungsdenkmal und beschrieb langsam einen Kreis. Der bewusstlose Junge wurde zu einem grauen Wagen getragen.
Onkel Wu schaltete den Ton ab. Er schenkte sich grünen Tee nach und schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Viele Menschen fürchteten sich in diesen bewegten Zeiten. Sie suchten nach einem Halt in den Fluten, die sie in den Strudel des Wandels zu ziehen drohten, und klammerten sich an vieles, das fragwürdig war. Sie sehnten sich nach Offenbarungen, Zeichen, Wundern und suchten Zuflucht bei den abstrusesten Überzeugungen. Aber wenn es nun stimmte, dass Chogyal seit elf Tagen in der Finsternis der Gebetsmühle seine Kreise zog? Was wäre, wenn der Tonzylinder sich auch morgen und übermorgen noch drehte? Was hätte es zu bedeuten? Er kannte die Dokumentaraufnahmen, welche die Regierung immer dann im Fernsehen zeigte, wenn es in Tibet zu Aufständen kam. Zu sehen waren zerlumpte Menschen, die zu Füßen der prachtvollen Klöster das Land bestellten, das ihnen nicht gehörte. Verstümmelte Bettler säumten die Straßen, manche Arbeiter trugen Fußfesseln. Bis zur Übernahme der Verwaltung durch die chinesische Regierung im Jahr 1959 hatte dort Leibeigenschaft geherrscht. Jetzt waren die Menschen angeblich frei – aber weshalb hingen sie dann an den alten Traditionen und verehrten die Mönche? Onkel Wu war kein Tibeter, sondern Chinese, doch die Bilder, die alten und die neuen, ließen ihn nicht kalt. Genau genommen wühlten sie ihn stärker auf, als in seinem Alter gut für ihn war.
An der Tür wurde geklopft; die Klingelanlage (mit konfigurierbarem Signalton und Videomonitor) hatte von Anfang an nicht funktioniert. Onkel Wu sah auf die Zeitanzeige an der Videowand. Es war bereits halb elf, spät für seine Verhältnisse. Wer konnte das sein?
Er schlurfte zur Tür und machte auf. Vor ihm stand eine junge Frau mit Kostümjacke und dunkelgrauem Rock, in der Hand eine Reisetasche, die ihre rechte Schulter nach unten zog. Sie lächelte verlegen.
»Onkel Wu, darf ich eintreten?«
Jetzt erkannte er sie wieder. Das war Xialong, das kleine Mädchen, dem er im Park Geschichten vorgelesen hatte, weil ihre Kinderfrau, eine Australierin, kein Chinesisch lesen konnte. Auch später noch, als sie nicht mehr von Privatlehrern unterrichtet wurde und die Universität besuchte, hatte sie ihn hin und wieder im Park besucht und ihm jedes Mal etwas mitgebracht: ein paar Süßigkeiten, eine Flasche Reiswein, eine gebratene Taube oder frisches Obst. Nie hatte sie ihn spüren lassen, dass sie, bewacht von Drohnen und schwer bewaffneten Sicherheitskräften, hinter dem Zaun im Kleinen Himmel lebte, wie die Leute sagten, einer streng bewachten geschlossenen Gesellschaft, die für Normalsterbliche so unzugänglich war wie dereinst der Kaiserpalast für einen Reisbauern aus der Provinz. Inzwischen wohnte sie außerhalb des Kleinen Himmels, das hatte sie ihm erzählt, und erst heute Morgen war sie auf dem Weg zur Arbeit am Park vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt.
Er verbeugte sich und geleitete sie durch den Flur in sein kleines Wohnzimmer. Während sie die Tasche abstellte, sich setzte und sich das Haar aus dem Gesicht strich, schenkte er ihr Tee ein. Er nahm ihr gegenüber Platz und betrachtete ihr schönes Gesicht, das aufgerissen war wie das Papier einer Tuschezeichnung. Verzweiflung und Angst lugten durch die Risse, trotzdem sagte sie kein Wort, sondern wartete höflich, bis er, der Ältere, sie ansprach. Onkel Wu aber schwieg.
»Das ist verboten«, sagte sie schließlich und deutete auf die Liveübertragung vom Potala-Platz in Lhasa. Eine Regierungsdrohne machte mit Fangnetzen Jagd auf die fliegende Kamera, und das Bild schwankte und ruckte, dass einem schlecht werden konnte.
»Ja«, sagte Onkel Wu. »Die Anlage hat ein junger Freund eingerichtet, und ich weiß nicht, wie man die illegalen Kanäle löscht.«
»Aber du könntest einen anderen Kanal einschalten.«
»Ja, das könnte ich«, sagte Onkel