KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe


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den Eindruck, als sähe sie normalerweise ganz anders aus. Als gehörte sie hier nicht her. Plötzlich zeigte sie über seine Schulter hinweg und sagte: »Der elfte Tag?«

      Er drehte sich zu dem Monitor mit dem Tibet-Stream um. »Der zwölfte«, sagte er, nicht weil sein Zeitgefühl sich auf einmal wiederhergestellt hatte, sondern weil es rechts unten eingeblendet wurde. Schon erstaunlich, dass die Typen vom FreeVee es schafften, einen nahezu unterbrechungsfreien Stream zu senden.

      Xialong nickte, sah auf ihre Hände. »Onkel Wu hat mich geschickt«, sagte sie leise.

      »Ah.« Kung nahm eine Wasserflasche vom Tisch und trank. Dann richtete er die Webcam, die seitlich an seinem Monitor klemmte, unauffällig auf seine Besucherin und startete ein Programm.

      »Du hast ihm die Fernsehwand eingerichtet.«

      »Stimmt.«

      »Mit illegalen Sendern.«

      »Nicht nur.«

      Xialong lächelte zaghaft, das erste Mal. »Onkel Wu hat mir deine Adresse gegeben.«

      »Weshalb?«

      »Er … er hat gemeint, du könntest mir vielleicht helfen.«

      Kung schüttelte den Kopf. Er ahnte, dass dieser Besuch nichts als Ärger bedeutete und dass es am besten wäre, ihn möglichst kurz zu gestalten. Trotzdem sagte er, vielleicht aus Neugier: »Komm drauf an.«

      »Worauf kommt es an?«, fragte Xialong. In diesem Moment war die Gesichtserkennung abgeschlossen. Die Infos wurden in einem Fenster angezeigt. Da er den gesamten Datenverkehr verschlüsselt und zerhackt über anonyme Server schickte, hatte die Auswertung einige Zeit gedauert. Das war eines der Zugeständnisse, die man in diesen Zeiten machen musste, wenn man den Sicherheitsbehörden ein Schnippchen schlagen wollte.

      Wei Xialong, 28, ledig, Mutter Wei Lanlong, Vater unbekannt, keine Geschwister. Mit Sondergenehmigung zu Hause unterrichtet, dann Besuch der Tsinghua-Universität Beijing, Abschluss in Betriebswirtschaft. Der Mutter gehört der Jiqiren-Konzern, Wei Xialong leitet derzeit den Premiumstore Himmlische Geschöpfe in Beijing, Straße der Goldenen Chrysanthemen.

      Die Kurzinfos wurden von ein paar Fotos ergänzt, Aufnahmen von Xialong in unterschiedlichem Alter, beginnend mit der Studienzeit. Keine Kinderbilder, keine peinlichen Partyfotos, kein öffentliches Profil. Das Geschäft war von außen zu sehen, auch ein paar Botmodelle des Mutterkonzerns.

      »Wow«, sagte Kung.

      »Was, wow?«, fragte Xialong.

      »Tut mir leid, ich muss pissen.« Er erhob sich überstürzt und stolperte durch den Durchgang nach nebenan, wo neben einem Regal mit Elektronikteilen, Sachen zum Anziehen und Instantpackungen für den Küchenautomaten auch das Klo und die Dusche untergebracht waren, alles ohne Tür, ohne Vorhang, ohne jede Abteilung. Er bekam kaum Besuch, und noch keiner hatte sich je über einen Mangel an Hygiene oder gar Intimsphäre in seiner Wohnung beschwert. Die Leute, die zu ihm kamen, interessierten sich für andere Dinge. Die junge Frau aber hatte etwas an sich, das ihn seine normalerweise ausgeblendete Wohnrealität mit anderen Augen betrachten ließ. Bei ihm war es nicht nur schmutzig, sondern siffig. Der in die Decke eingelassene Ventilator rasselte, dicke Staubfäden schwankten unter dem Abdeckgitter im Aufwind. Das Ding beförderte die verbrauchte, von den Prozessoren aufgeheizte Luft nach draußen, aber wo kam eigentlich die frische nach? Die Fenster waren versiegelt, Tageslicht und Geräusche störten ihn beim Arbeiten. Genau genommen lebte er im permanenten Unterdruck. Und im Entlüftungsrohr wuchsen bestimmt Bakterien, die jeden Biologen in Verzückung versetzt hätten. Nicht nur da oben.

      Er erleichterte sich, wusch sich das Gesicht und putzte sich sogar die Zähne. Einen sauberen Slip konnte er nicht finden, die waren wohl noch alle in der Wäscherei, deshalb begnügte er sich mit Jeans und T-Shirt. Als er mit zwei Packungen veganem Gemüseomelett ins Arbeitsschlafzimmer trat, schaute Xialong auf das Display mit dem Tibet-Stream, versunken in den Anblick der sich monoton drehenden Gebetsmühle, in der der Kleine Mönch eingeschlossen war. Wie schaffte der das ohne Essen und Trinken? Hätte er nicht längst tot sein müssen?

      Kung leerte die Tüten in den PrepBoy, wartete, bis das Frühstück fertig war, dann nahm er die beiden Schalen heraus, nahm vier Stäbchen aus der Schublade, schenkte lauwarmen Tee in zwei Becher und balancierte alles auf einem fleckigen Bambustablett zum Tisch.

      Xialong sah ihn fragend an, und als er nickte, machte sie sich hungrig über das Omelett her. Trotzdem aß sie mit Bedacht und führte die Stäbchen zum Mund, anstatt sich den Reis aus der Schale zwischen die Lippen zu schaufeln. Kung gefiel, was er da sah, und unwillkürlich bemühte er sich, den Tee ohne lautes Schlürfen zu trinken. Als sie gegessen hatten, sagte er: »Und jetzt erzähl.«

      

      6

      Tschoulao liebte die Ordnung. Die Ordnung verlieh dem Leben Sinn. Ordnung bedeutete, zwischen gut und richtig, wahr und falsch zu unterscheiden. Ordnung war größer als der einzelne Mensch mit seinen kleinlichen Wünschen. Ihm stand es gut an, sich unterzuordnen, wenn er des großen Sinns teilhaftig werden wollte. Die Alten hatten dies gewusst, sonst hätte das Reich mit seiner langen Abfolge von Kaisern nicht Jahrtausende überdauert und wäre nicht aus jeder Krise in neuer Pracht wiederauferstanden. Und auch die Partei wusste es und duldete keine Widersacher neben sich, welche die Menschen hätten in Verwirrung stürzen und das kostbare Gebäude des Staates gefährden können. Indem sie ihre Macht eifersüchtig hütete, schützte sie das große Ganze. Die Partei war klüger als der Einzelne. Der hatte nur zwei Augen. Die Partei hatte viele.

      Auch Tschoulao hatte sein Leben lang seinen Beitrag geleistet, und er tat es noch immer, als Nachbarschaftswächter. Im Hutong war das einfach gewesen. Die Hälfte des Lebens spielte sich auf den Gassen und in den kleinen Innenhöfen ab. Jeder kannte jeden, nichts blieb verborgen. Er war ein respektierter Mann gewesen, mit dem man gerne sprach und den man um Rat fragte, wenn es Probleme mit der Ausbildung der Kinder oder der Medikamentenrechnung gab. Seine »Drähte« – so nannte er die Kontaktleute, denen er zweiwöchentlich Bericht erstattete – waren kein Stigma gewesen, sondern Ansprechpartner, an die man sich wandte, wenn es irgendwo hakte. Sie waren ein Teil des Lebens gewesen, so wie er ein Teil des wimmelnden, stinkenden, verfallenden Hutongs gewesen war.

      Jetzt wohnten sie in neuen, modernen Häusern. Sie sahen fern an der Wand, es stank nicht mehr nach Schimmel und Pisse, doch die Probleme waren nicht geringer geworden. Mal war das Leitungswasser rot von Rost, mal kam es in den obersten Stockwerken gar nicht erst an. Mal gab es einen Kurzschluss in der Wand, dann wieder war der Lift ausgefallen, oder jemand hatte das Treppenhaus verunreinigt. Geld hatten die Leute auch nicht mehr als früher, doch es schien so, als wären mit der Höhe ihrer Behausungen ihre Ansprüche ins Unermessliche gewachsen. Hatte er etwa die Kabel mit der brüchigen Isolierung in die Wand eingebaut? Konnte er etwas dafür, wenn der Wasserdruck in den Leitungen nicht ausreichte? Und weshalb verstellten sich andauernd ihre Fernsehwände? Mit allem Ärger, ob berechtigt oder nicht, kamen sie zu ihm, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Beschwerden an den Hausmeisterservice weiterzugeben, der allzu selten mit seinem schicken roten Lieferwagen vorfuhr und allzu schnell wieder weiterzog. Seine Drähte halfen auch nicht weiter, denn er hatte nichts mehr zu berichten, was sie mit Gefälligkeiten hätten erwidern mögen. Die Wohntürme der Glücklichen Familie waren für ihn undurchsichtig. Von dem Leben, das sich hinter den Wänden abspielte, war er ausgeschlossen. Die Menschen vertrauten ihm nicht mehr, sie erzählten ihm nichts. Kam er in ihre Nähe, wurden sie stumm wie Fische. Zu ihm kamen sie nur, wenn es etwas zu schimpfen gab. Ansonsten warfen sie ihm böse Blicke zu, als wäre er persönlich schuld an ihrer Umsiedlung. Dabei hätten sie dankbar sein sollen, dass die Partei sie aus dem stinkenden Schmutz herausgeholt hatte.

      Manchmal kam er sich überflüssig vor.

      Heute war es anders. Eine Frau war aus Onkel Wus Wohnung gekommen.

      An der Wand des Wohnraums liefen, säuberlich aufgeteilt in acht Reihen, die Programme des staatlichen Fernsehens und die Bilder


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