KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe


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kaute auf einem Teeblatt herum, dann begannen ihre Lippen, zu beben.

      »Meine Termine sind verschwunden«, sagte sie. »Den ganzen Tag lang war niemand für mich zu sprechen. Meine Mutter ist nicht erreichbar. Zu Hause wollte mich eine Motte töten. Dann ist die Netzverbindung meines Coms ausgefallen. Ich kann niemanden mehr erreichen. Ich kann mir nicht mal mehr ein Taxi rufen. Ich komme an kein Geld heran. Und Ken ist so dumm geworden wie ein Stück Holz.« Sie hob den Arm. Der Ärmel ihrer Kostümjacke fiel herab und gab das Drachenband an ihrem schmalen Arm frei.

      »Warum, mein Kind, gehst du nicht zur Polizei?«

      Trotz der Wärme fröstelte Xialong. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich traue mich nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre nicht gut.«

      »Ich verstehe«, sagte Onkel Wu, obwohl er nichts verstand. Er ergriff ihre Hand, zog sie sanft auf den Tisch nieder und drückte sie. »Vielleicht solltest du erst einmal schlafen. Du kannst dich hier auf das Sofa legen. Warte, ich hole dir eine warme Decke.« Er ging in die kleine Schlafkammer und holte eine Decke aus dem Schrank. Als er zurückkam, schlief Xialong bereits, ohne sich entkleidet zu haben. Nur die Kostümjacke hatte sie über die Stuhllehne gelegt.

      Besorgt und fürsorglich deckte er sie zu.

      

      4

      Früher war alles besser, dachte Kung, obwohl er erst zweiundzwanzig war. Die Hacks waren besser und die Drogen auch. Vielleicht konnte er früher auch nur mehr davon vertragen. Jetzt sah er aus wie dreißig, ach was, wie vierzig, und wenn er mal eine Nacht durchmachte, zitterten ihm morgens die Hände so sehr, dass er kaum noch eine Flasche Wasser ansetzen konnte.

      Wasser war die einzige Medizin, die ihn vom finalen Burn-out trennte. Klares, sauberes, kühles Wasser und das Sanktuar.

      Hong Gezi hatte ihn darauf gebracht. Er hatte keine Ahnung, wer hinter diesem Fakeprofil steckte, aber irgendwas in der Art, wie sie ihren jämmerlichen Zustand und die Wohltaten der Drei Wahrheiten schilderte, hatte ihn veranlasst, dem Link zu folgen. Vermutlich lag es daran, dass die Selbstbespiegelung bei Hong Gezi so lang und die vermeintliche Problemlösung so knapp ausgefallen war.

      Unbewusst setzte er »knapp« mit »effektiv« gleich.

      Der Link brachte ihn auf eine Seite mit dem Schriftzug Die Drei Wahrheiten. Kein Darknet und keine Kryptoserver nötig, keine Verschlüsselung. Das war verdächtig. Egal, dachte er. Hong Gezi hat’s auch überlebt. Er setzte das VR-Gear auf, schob die rechte Hand in einen Datenhandschuh und gelangte in ein graues Nichts, in dem sich drei beschriftete Portale abzeichneten: Vertrauen, Verehrung, Versenkung. Während er noch überlegte, ob er sich wieder ausklinken sollte, öffnete sich das Vertrauenportal, und er schwebte hindurch – in einen leeren, großen Kugelraum, dessen Innenbegrenzung aus einer durchscheinenden Schicht scrollender, einander überlagernder Worte bestand. Die Worte waren deutlich zu erkennen und bildeten Sätze, doch es waren einfach zu viele, um einen herauszugreifen. Gleichzeitig vernahm Kung einen gewaltigen Flüsterchor, eine Art kosmisches Gesäusel. Waren die Worte und das Geflüster kongruent? Er konnte es nicht sagen. Dann vernahm er eine einzelne, laute, verständliche Stimme, und sie sagte: »Wähle deinen Vertrauten.« Gesichter tauchten vor ihm auf, Männer und Frauen, Junge und Alte, und nach einer Weile, als es ihm langweilig wurde, sagte er bei einer etwa dreißigjährigen Frau mit freundlichem Blick Halt. Ihr Gesicht lächelte und bekam einen Körper. Sie verneigte sich vor ihm und sagte: »Ich heiße Mei und bin jetzt deine Vertraute. Ich bin immer für dich da.« Dann verschwand sie.

      Der zweite Raum war ein weißer Kubus von etwa fünfzig Meter Seitenlänge. Trotz seiner Größe und Leere machte er den Eindruck eines Zimmers. Genau in der Mitte befand sich ein niedriger Sockel mit einer Art Kasten darauf. Kung schwebte hinüber. Aus fünf Meter Abstand stellte er fest, dass der Kasten ein Computer war – nicht irgendein Computer, sondern sein allererster Rechner, ein schwarzer Lenovo mit transparenter Seitenwand, durch die er in das blau ausgestrahlte Innere sah. Er hatte diesen Kasten geliebt und liebte ihn immer noch, doch ehe er ihn genauer in Augenschein nehmen konnte, traten Gestalten aus den Wänden hervor, viele Männer und einige wenige Frauen, und nahmen im Halbkreis hinter seinem geliebten ersten Rechner Aufstellung, darunter Konrad Zuse, der Erbauer des ersten programmgesteuerten Rechners, Noam Chomsky, der Begründer der Chomsky-Hierarchie, Bill Gates, der Erfinder von Windows, Linus Torvalds, der Initiator von Linux, und Liu Chuanzhi, der Gründer des Lenovo-Konzerns. Einige Personen kannte er nicht, doch er spürte, sie waren erschienen, um dem Kasten auf dem Podest Respekt zu erweisen. Und der Kasten, sein geliebter erster Rechner, morphte, die Kanten rundeten sich, das Gehäuse wurde gedrungener, kraftvoller, und plötzlich zoomte sein Blick hinein, schwenkte über Mainboard und Grafikkarte, stürzte in den Prozessor und raste die Schaltungsbahnen entlang, drang in eine Erweiterung ein, in eine kristallorganische Masse, in etwas noch nie Gesehenes, und er begriff, dass er und die Riesen der Vergangenheit sich versammelt hatten, um dem Neuen zu huldigen, und was er in diesem Moment empfand, verdammt wollte er sein, war Verehrung für den Schöpfergeist und die Schönheit dieser von Menschen erschaffenen Struktur.

      Als er in den dritten Raum schwebte, war er bereit. Empfänglich. Deshalb war er zunächst enttäuscht. Drei Kinder hockten um eine Bodenmulde herum, durchscheinende, fahle Gestalten, wie aus einem alten, verblassten Papierbild herauskopiert und auf 3-D extrapoliert. Dann erkannte er sie: Das waren er selbst, seine verstorbene Schwester Chen-Chen und der Junge von nebenan. Er wusste auch, was in der Mulde lag: eine Murmel. Sie hatten sie in Erdlabyrinthen trainiert und mit ihr gemeinsam an Nachbarschaftswettbewerben teilgenommen. Der Hals schnürte sich ihm zu. Und da stieg die Murmel auch schon empor. Im Gegensatz zu den Kindern wirkte sie real und körperlich. Ein leuchtendes Schlierenmuster wanderte darüber hinweg, als ob sie rotierte. Gleichzeitig wurde sie größer, immer größer, und ehe Kung sich versah, befand er sich innerhalb der Kugel und sah, dass die Schlieren lebendige Blattmuster waren, die wuchsen und an ihren Rändern neue Blattinseln ausbildeten, die sich wiederum an ihren Rändern reproduzierten. Immer tiefer tauchte er in das fraktale Muster ein, und gleichzeitig verspürte er eine tiefe Ruhe wie schon lange nicht mehr.

      Dies war seine erste Begegnung mit den Drei Wahrheiten, und seitdem war er ein Follower. Wenn es ihm schlecht ging, besprach er sich mit Mei oder suchte das Sanktuar auf und meditierte. Das war keine Frage des Glaubens, sagte er sich, sondern reine Logik. Die Drei Wahrheiten funktionierten. Sie waren effektiv. Und sie gewannen immer mehr Anhänger. Viele stellten allerdings auch Fragen nach dem unbekannten Betreiber des Portals. Doch solange es wirkte, war ihm egal, ob dahinter ein hundertjähriger Weiser steckte oder der genialische Algorithmus eines wahnsinnigen Freaks. Er wusste, wann ihm etwas guttat.

      Der Eckplatz vor dem Eingang des Premiumstores Himmlische Geschöpfe war mit Plastband abgesperrt. Ein grau Uniformierter und ein AnBot leiteten den Fußgänger- und Botverkehr außen an der Absperrung vorbei, ein zweiter Beamter schaute ihnen zu. Eine Drohne hing reglos in der Luft, die Kamera drehte sich und filmte die Autos und die Passanten. Als Xialong sich mit ihrem SegBike dem Laden näherte, bekam sie ein mulmiges Gefühl.

      Heute Morgen hatte sie sich noch zuversichtlich gefühlt. Onkel Wu hatte ihr ein karges Frühstück mit kaltem Reis und eingelegten süßsauren Sojasprossen bereitet, dazu gab es den ersten Teeaufguss des Tages. Wie schon ungezählte Generationen vor ihm hielt er an dem Brauch der armen, einfachen Leute fest, den Morgentee im Laufe des Tages immer wieder aufzugießen, bis abends ein heißer Sud dabei herauskam, dessen Geschmack und Farbe sich allenfalls erahnen ließen. Seine ruhige Stimme und die unaufdringliche Art und Weise, wie er ihr beim Essen zuschaute, taten ihr gut und bestärkten sie in der im Schlaf gewonnenen Überzeugung, dass der gestrige Tag wenig mehr gewesen war als ein böser Traum, ein Ausrutscher des Irrealen in den Alltag hinein, für den sich bald eine Erklärung finden würde. Zhang Sammo würde ihr einen Techniker schicken, der ihre Netzverbindung wiederherstellen und Ken samt ihrem Terminkalender debuggen würde. Sie würde neue Termine für eine Videokonferenz ausmachen und bei der Polizei wegen des Vorfalls vor und in ihrer Wohnung Anzeige erstatten. Genau genommen war sie gar nicht mehr sicher, dass es sich um einen Drohnenanschlag gehandelt hatte. Auf Kens Urteil war zu dem Zeitpunkt


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